von Sonja M. Winkler
Seit sie mir auffielen, ihre stark überstreckten Knie, die nach hinten gebogenen Beine, wie sie da stand, ein fester Pflock im Gang zwischen den aneinandergereihten Schreibtischen, an denen wir wie aufgefädelt saßen, löste ihre körperliche Präsenz Gefühle der Abneigung in mir aus. Sie war von großer, um nicht zu sagen einnehmender Gestalt und machte was her mit ihren Seidentüchern in schreienden Farben. Auf Wangen und Stirn lag stets ein glänzender Fettfilm, der sie aussehen ließ, als würde sie schwitzen. Sie benutzte offensichtlich eine Tagescreme, die nicht gut einzog.
Einmal bemerkte unser Assistant Teacher, oh yes, she’s quite overbearing, und mir war schlagartig klar, worauf er sich bezog. Wenn man feine Antennen für die Ausstrahlung eines Menschen hat, dann spürt man’s sofort.
Die Chefin. Der gesamte Lehrkörper nannte sie so. Das hervorstechendste Merkmal war ihre laxe Dienstauffassung. Viel lieber als in der Schule hielt sie sich auf ihrem Anwesen am Mondsee auf, einem alten, renovierungsbedürftigen Familienbesitz. Hin und wieder erschien sie am Dienstort, um nach dem Rechten zu sehen. Vieles drängte dann auf rasche Erledigung. Sie zog sich in die geräumige Direktion zurück und betäubte sich mit Opernmusik.
Sie herrschte mich oft an, wegen Nichtigkeiten. Entweder stand ich zur falschen Zeit am Kopierer oder trug Jeans in der falschen Farbe. Meine Lehraufträge an der Uni waren ihr ein Dorn im Auge. Ich ahnte, weshalb. Sie wollte, dass ich der Schule zur Verfügung stehe für die Gschaftln, vor denen sich die anderen drückten.
Die Chefin war eine harte Nuss. Ich wollte sie knacken. Es geschah auf der Studienreise nach Florenz, just als wir vor dem wuchtigen Palazzo Pitti standen. Die Chefin hatte neben Germanistik auch Kunstgeschichte studiert und war als Tourist Guide in ihrem Element. Der Palazzo sei ein typisches Beispiel für den Übergang von der Renaissance zum Barock, sagte sie, und „Bossenquader“ nennt man diese Steine, die Teil der Mauer sind. Interessant, fiel ich ein, denn mittelhochdeutsch bôʒen heißt „schlagen, behauen“ und steckt ja noch im Wort „Amboss“. Sie sah mich an, und ihr Blick spiegelte etwas anderes als üblich.
Als wir durch die weitläufigen Boboli-Gärten lustwandelten, vorbei an der mit Schwammsteinen und Muscheln ausgestalteten Grotte, wo ein dickbäuchiger Hofzwerg auf einer Schildkröte reitet, kam sie auf mich zu. Die anderen unserer Gruppe waren außer Hörweite. Da vertraute sie mir etwas an. Beschämt gab sie zu, das Latinum erschwindelt zu haben. Ihr Vater, ein einflussreicher Mann, habe seine Finger im Spiel gehabt. Und auch bei Mittelhochdeutsch habe sie getrickst. Ich fragte nicht nach. Ich nickte und verstand. Am Abend vor dem Rückflug bot sie mir das Du-Wort an.
Die letzten Schuljahre vor ihrer Pensionierung verliefen einigermaßen harmonisch. Nicht nur, dass ich nicht mehr angeherrscht wurde, nein, das Blatt hatte sich überraschenderweise gewendet.
© Sonja M. Winkler 2021-06-13