Die Dame mit Akzent (II/III)

MISERANDVS

von MISERANDVS

Story

[…]

“Dass sie sich nicht schämen!”, poltere ich: “Ist das notwendig, jemanden, der offensichtlich sprachlich kämpft, wie Dreck zu behandeln? Die Frau hat freundlich gefragt, hat Bitte und Danke und Entschuldigung gesagt, und sie behandeln sie so? Die Marktleitung will ich sprechen. Augenblicklich!” Die Kassenfrau klingelt hektisch, fixiert mich dabei ängstlich.

Die Chefin kommt. “Ja, bitte?”, fragt sie freundlich. “Auf ein Wort bitte.”, sage ich, auch sehr freundlich, und wir gehen ein wenig abseits. Muss ja nicht jeder hören. Sie hört aufmerksam zu. Ich lasse keinen Zweifel an meinem Missfallen daran, wie man hier mit Kunden umgeht. Meine Worte sind leise, sehr leise, aber unmissverständlich. Die Dame mit Akzent stellt sich schüchtern zu uns. Als ich meinen Arm hebe und mit dem Zeigefinger mehrfach anklagend in Richtung Chefin deute und sage: “Ich erwarte mir von ihnen – von ihnen persönlich! – dass sowas nie mehr vorkommt.” Die Dame mit Akzent legt mir ihre Hand auf den Arm und flüstert: “Bitte, ist gut. Bitte.” “Augenblick.”, sage ich sanft: “Ich bin gleich bei ihnen, ja?”

“Also?”, sehe ich die Chefin funkelnd an. Sie nickt. Die Kassenfrau wird abgezogen und ins Büro geschickt. “Es tut mir sehr leid, bitte entschuldigen sie.”, sagt die Markleiterin zur Dame mit Akzent. Die nickt nur schweigend, peinlich berührt. Als die Chefin mich fragend ansieht, sage ich besänftigt: “Danke. Sehr nett von ihnen.” Die Dame mit Akzent entschwindet heimlich, ich zahle mein Zeug und gehe nach draußen.

An den Einkaufswagen höre ich plötzlich leise: “Danke, Herr!” Ich dreh mich um. Die Dame mit Akzent steht da. Sie lächelt so verlegen schön. Hätt‘ ich ein Herz, es würde schmelzen wollen. “Alles gut.”, sag ich. Da steht die Chefin auf einmal hechelnd da: “Als kleine Wiedergutmachung. Entschuldigung nochmal.”, und sie drückt der Dame mit Akzent einen Einkaufsgutschein über € 50,- in die Hand. Die sieht mich fragend an. Ich nicke.

Was dann geschieht, ist schwerlich zu beschreiben und kostet mich viel Kraft, ganz ehrlich:

Dicke Tränen kullern über die Wangen der Dame mit Akzent. Ich schau verlegen weg. Sie heult, und immer lauter wird ihr Schluchzen. Als bräche lange aufgestauter Schmerz aus ihr. Ihr wurde wehgetan. Und nicht nur heute an der Kassa. Sie ringt um Atem, drückt den Gutschein wie einen Schatz an ihre Brust. Der zarte Frauenleib erzittert wellenartig, beginnt zu wanken, und durch die Tränenschleieraugen streckt sie suchend, zitternd ihre Hand nach mir. Sie fasst mein Shirt und zieht sich heulend an mich. Herrjemine! Was mach ich nur? Ihr Heulen schmerzt mich. So leg ich meine Riesenarme langsam, sanft um eine Fremde, die heult, als litte sie den Schmerz der Welt an mir. Ich schließ die Augen, atme schwer. Ich spüre ihren Schmerz, wie er aus ihrem Herzen in das meine kriecht, sich einen Weg mit messerscharfen Krallen schneidet. In meinem Herz ist er weit besser aufgehoben. Schmerz findet zu Schmerz. Immer.

[…]

© MISERANDVS 2021-08-31

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