von Luca Körnich
Ich telefoniere mit meiner Mutter. Das letzte Mal, dass wir miteinander gesprochen haben, ist schon einige Wochen her. Ich habe das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen. Aber was soll ich sagen? Dass ich gestresst von Uni war? Obwohl ich Donnerstag und Freitag frei habe. Oder von Menschen? Einfach, weil ihre Präsenz mir Energie raubt. Ich höre schon die Stimme meines Vaters, wie er mit einem Kopfschütteln und einem Lächeln sagt: „Das ist doch kein Stress. Du bist Studentin. Da hat man alle Zeit der Welt.“ Daher sage ich nichts dergleichen. Erzähle nur die guten Dinge. Dass ich mich hier endlich eingelebt habe. Was nicht mal gelogen ist, denn nach den vielen Monaten spüre ich es tatsächlich: das Ankommen. Ich kenne meinen Supermarkt, weiß, wo die Milch steht, welches Brot beim Bäcker das Beste ist und welcher Weg der schnellste zur Uni. Auch mit meiner WG ist es unkompliziert. Kate Bush läuft laut rauf und runter, wir gucken Trash-TV und bald haben wir auch alle Rezepte von Ottolenghi durchgekocht. „Das freut mich“, sagt meine Mutter vom anderen Ende der Leitung. „Dann fehlt jetzt ja nur noch mehr Leben.“ Sie hat diesen Satz ganz beiläufig gesagt, ohne sich viel dabei zu denken. Mich aber lässt er nicht mehr los. Es fehlt mehr Leben? Was soll denn mehr Leben heißen? Ich fühle mich wohl, reicht das nicht? Warum geben mir so viele Menschen immer wieder das Gefühl, dass ich etwas falsch mache? Patentanten fragen nach großen Partys. Nachbarn nach meinem ersten Freund. Sage ich ihnen, dass ich den immer noch nicht habe, sehen sie mich auf eine Weise an, als würden sie mehr über mich verstehen als ich selbst. Als wüssten sie genau, was zu einem Studentenleben alles dazugehört.
Zum Glück gibt es manchmal Momente in meinem Leben, in denen ich spüre, dass ich nicht die Einzige bin, die sich schwer in solchen Situationen tut. Ich erinnere mich an einen Abend in der WG, wo ich mit meiner Mitbewohnerin Liv müde auf dem Sofa in unserer Küche saß. Wir guckten gerade eine Folge unserer Lieblingsserie, als wir Schlüsselgeklimper hörten. Wenig später kam Sarah mit noch von der Kälte geröteten Wangen in die Küche und erzählte uns von ihrem Abend. Solange bis eine Nachricht auf dem Display ihres Handys aufleuchtete. „Der eine Typ von Tinder will sich mit mir treffen“, erklärte sie, nachdem sie kurz durch den Chatverlauf gescrollt hatte. „Jetzt?“, fragte ich und warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht. Doch Sarah zuckte nur mit den Schultern und verschwand im Flur. Als die Tür wenig später ins Schloss fiel, fühlte ich mich seltsam. Solange bis Liv neben mir etwas sagte. Ganz leise. „Wie schafft sie das nur?“
© Luca Körnich 2022-07-27