Nach einer eintägigen Seereise durch eine reizvolle Landschaft mit über 20.000 Schären erreiche ich bei einem traumhaften Sonnenuntergang über der Ostsee Turku – die älteste und bis ins 19. Jahrhundert bedeutendste Stadt an der Südwestküste Finnlands.
Heute ist Turku die sechstgrößte Stadt Finnlands, Sitz des Erzbistums der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands und der Åbo Akademi und Universität.
Bereits im 13. Jahrhundert entwickelte sich Turku zur ersten Stadt Finnlands. Ihr Name, abgeleitet vom altrussischen tǔrgǔ (Marktplatz), wird verständlich – die Region war bereits seit der Steinzeit besiedelt, betrieb in der Eisenzeit regen Handel im Aurajoki-Tal und unterhielt im Mittelalter intensive Beziehungen zur Hanse, ohne Mitglied zu sein.
Burg, Kloster und Dom machten Turku neben Viborg zur bedeutendsten Stadt des mittelalterlichen Finnland. Hier lebte auch der Reformator Mikael Agricola, ein Schüler Martin Luthers, der 1548 mit seiner Bibelübersetzung den Grundstein für die finnische Schriftsprache legte.
Turku durchlebte eine wechselvolle Geschichte, wurde in die Kriege zwischen Schweden und Nowgorod und später zwischen Dänemark und Schweden hineingezogen, mehrfach geplündert und niedergebrannt, erlebte aber auch eine geistige und kulturelle Blüte durch das prunkvolle Hofleben der Renaissance.
Im Russisch-Schwedischen Krieg von 1808 eroberten russische Truppen Turku. Als Schweden 1809 Finnland an Russland abtreten musste, wurde Turku Hauptstadt des neu gegründeten Großfürstentums.
Doch für Zar Alexander I. war Turku zu weit von St. Petersburg entfernt. Er verlegte die Hauptstadt in das unbedeutende Helsinki. Dabei kam ihm ein Stadtbrand zugute, der Turku 1827 fast vollständig zerstörte – drei Viertel der Häuser und alle Institutionen fielen dem Feuer zum Opfer. Mit der daraufhin in Helsinki gegründeten Universität verlor Turku endgültig seine Vormachtstellung.
Die Turkuer haben aufgrund der Vergangenheit ihrer Stadt ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein: “Man kann kein Turkuer werden, man muss als solcher geboren werden!” Auch der lokale Dialekt („Turun murre“) ist identitätsstiftend. Helsinki bleibt für sie ein „Emporkömmling“ – nur die Rivalität zu Tampere ist ausgeprägter.
Aufgrund des ursprünglich hohen schwedischen Bevölkerungsanteils wurde die Zweisprachigkeit eingeführt. Obwohl heute nur noch 5 % Schwedisch sprechen, regelt ein Ausnahmegesetz die Zweisprachigkeit (nach finnischem Recht müssten 6 % Schwedisch sprechen). Diese Ausnahme gilt auch für die Samen in Lappland, wo nur 0,036 % Samisch sprechen. Snobs sind die Turkuer geblieben, auch ohne Hauptstadt.
Bei Gustavo, einem typisch finnisch-italienischen Lokal, gibt es nur italienisches Bier – zu 9,50 Euro die Flasche – die Flasche Primitivo kostet 385 Euro.
Selbstbewusst wird jedes Jahr am 24. Dezember um 12 Uhr von Turku aus der Weihnachtsfrieden für ganz Finnland ausgerufen.
© Heinz-Dieter Brandt 2022-09-10