Die erste Liebe

Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte.

Klein, zierlich, ein Gesicht, wie aus Marmor gemeißelt. Lange, schwarze Haare und ein Lächeln, das einen die Welt vergessen lässt.

Nie hätt ich gedacht, dass dieses Mädchen sich mit mir abgeben würde. Ich war vielleicht nicht hässlich, aber auch nicht der Traummann, dem die Frauen kreischend auf der Straße hinterherlaufen.

Ich war recht klein geraten, und eher hager, um nicht spindeldürr zu sagen.

Dennoch hatte sie ein Auge auf mich geworfen. Als mich ein Bekannter darauf aufmerksam machte, dass dieses Mädchen an der Bar gerne mit mir sprechen würde, dachte ich zuerst an einen üblen Scherz.

Doch dem war nicht so.

Wir unterhielten uns lang, lachten viel. Sie war gar nicht eingebildet, ganz natürlich. Nach einem langen, wunderschönen Abend gab es den ersten, zaghaften Abschiedskuss.

Das war vor fünf Jahren.

Die ersten Jahre waren wunderschön, doch dann kam es wie so oft. Eifersucht, Streit, Vorwürfe, Trennung.

Nun liege ich hier auf den Gleisen der Westbahnstrecke und warte auf den nächsten Zug. Es ist 2 Uhr in der Früh, mir ist kalt.

Es kommt nichts. Ich warte und warte.

Schließlich ist mir zu kalt, ich gehe nach Hause.

Es ist Sonntag Mittag, der Tag nach dem Zug.

Es läutet an der Tür.

Ich reagiere nicht. Es läutet und läutet, jemand hämmert unentwegt an die Tür.

„Öffnen Sie die Tür! Hier ist die Polizei!“

Mit noch immer vom Weinen gezeichneten Gesicht öffne ich die Tür.

Zwei Polizisten schauen mich an: „Wir haben gehört, Sie wollen sich umbringen?“

Ich bin unfähig etwas zu sagen, kann die Tränen nicht verbergen. Lasse meinen Gefühlen freien Lauf und weine wie ein kleines Kind.

Sie nehmen mich mit, später sollte mich ein Nachbar darauf ansprechen: „Na, was hast den verbrochen? HAHA!“

Auf dem Polizeirevier wurde ich dem Amtsarzt vorgestellt. Ich erzählte ihm meine Geschichte von erster, junger Liebe, Glück, Veränderung, Trauer und einer daraus folgenden Kurzschlusshandlung. Schnell wurde klar, dass es sich nicht um einen ernsthaften Suizidversuch handelte. Eher um eine unüberlegte Kurzschlusshandlung.

So brachten mich die beiden netten Polizisten wieder nach Hause.

Heute kann ich über diese Geschichte berichten, ohne von großen Emotionen befallen zu werden. Es ist zu viel Gras über die Sache gewachsen.

Doch ab und zu denke ich über sie nach; die Geschichte mit dem Zug und der ersten Liebe.