Die etwas andere Kerzengeschichte

Maria Büchler

von Maria Büchler

Story

Vor 25 Jahren habe ich meinen Wohnsitz nach Luzern verlegt, weil ich einen Schweizer geheiratet hatte. Bereits Monate vorher liefen meine Bemühungen um eine Arbeitsstelle im Primarschulbereich auf Hochtouren. Als Lehrerin mit zusätzlichen Qualifikationen wie Frühenglisch und diversen Freifächern war ich zuversichtlich, was eine Anstellung betraf. Mit 46 war ich noch relativ jung, und die helvetische Lehrerausbildung war noch nicht so gut wie die an unserer PädAk.

Leider hatte ich mich gründlich getäuscht. Doch ab Dezember durfte ich in einem Altersheim die Stelle als Aushilfe antreten, die unterste Stufe in der Pflege-Hierarchie. Statt der gewohnten 24 Wochenstunden standen mir nun doppelt so viele, ungleich anstrengendere, bevor. Nämlich 48, samt Wochenend- und Feiertagsdienst.

Der 1. Dezember war ein Sonntag und der erste Eindruck relativ milde. Mich hat er dennoch ziemlich geschlaucht. Um halb sieben wurde ich den Kollegen vorgestellt und von einer Pflegerin in meine Aufgaben eingeführt. Die Betreuung der Bewohner von 21 Zimmern, das war schon eine andere Gangart als mein eingeschliffener Alltag in der Dorfschule bei elf Drittklässlern. Bereits um neun hätte ich am liebsten mein durchweichtes Dienstkleid gewechselt.

Nachdem alle Senioren das Frühstück beendet hatten, gesellte sich das Pflegepersonal im Speisesaal zu ihnen. Der Raum war leicht abgedunkelt, neben dem wabernden Kaffeegeruch behauptete sich der Duft von frischem Tannenreisig. Er kam von den Adventkränzen, auf denen nun die jeweils erste Kerze entflammt wurde. Die adventliche Hintergrundmusik verstummte. In den Saal trat der Leiter des Hauses, lächelte in die Runde, begrüßte alle Anwesenden. Seine Rede hatte natürlich mit dem Adventbeginn zu tun.

Ich erinnere mich an einen einzigen Satz. Einerseits, weil ich die ungewohnte Welt um mich herum betrachtete, die Blicke der alten Menschen erwiderte und weil alles noch so neu war. Andrerseits, weil gerade dieser Satz in den folgenden Tagen oft wiederholt wurde:

„JETZT IST DIE ZEIT DES KERZENANZÜNDENS.“ Natürlich auf Schwyzerdütsch.

Am nächsten Tag begann ich ebenso früh, noch kaum erholt vom Abenddienst. Als ich das Haus betrat, streckte mich ein ekelhafter Geruch beinahe nieder. Gehörte das zu meiner neuen Tätigkeit? Ich eilte in die Garderobe, wo sich niemand befand. War ich zu spät dran? Ich lief zum Stationszimmer, wo mich die Kollegen mit betroffenem Blick empfingen.

„Frau Miller ist tot. Der Ärmel ihres Morgenrocks hat an einer Kerze Feuer gefangen. Sie saß im Rollstuhl und konnte nicht mehr aufstehen.“ – „Gestern hatte sie Besuch von ihrem Sohn, der hat ihr ein Gesteck mitgebracht, mit einer Kerze drauf.“ – “Ist sie…?“ – “Verbrannt, ja.“ – “Und der Leiter hat noch gesagt…!”

Unsere erste Aufgabe war, sämtliche Wachslichter in den Zimmern einzusammeln und zu erklären, warum. Nie wieder ist es mir so schwergefallen, meine Betreuten morgens mit einem Lächeln zu begrüßen.

© Maria Büchler 2020-11-06