von scritta
Jedes Jahr zu Weihnachten muss ich an Luisa denken.
Sie und ihr Ehemann Bert hatten es zu etwas gebracht. Sobald die beiden Töchter zur Schule gingen, arbeitete Luisa in einer Cafeteria, erst Teilzeit, später das volle Pensum. Bert begann frühmorgens bei der Müllabfuhr und holte abends seine Frau ab, um gemeinsam heim zu gehen. Als sich ihnen eine Gelegenheit bot, kauften sie ein Häuschen und zogen in meine Nachbarschaft.
Beide Töchter hatten eine höhere Schule besucht und waren in ihren Berufen erfolgreich. Während Emma in einer harmonischen Beziehung lebte, bereitete Maja den Eltern Sorge. Ihre Essstörung ließ sie immer mehr abmagern und hatte sich zu einer Bulimie ausgeweitet.
„Sie sah aus wie ein Gespenst, wir haben um ihr Leben gefürchtet“, erzählte Luisa. Nach einem Jahr schien Maja geheilt, doch der Arzt hatte die Eltern gewarnt: einmal süchtig, immer süchtig.
„Wir haben lange nichts gemerkt. Sie schien glücklich, ihr Freundeskreis wuchs, sie ging abends endlich wieder aus. Mit ihrem Freund waren wir einverstanden. Auch ihm fiel eine Zeitlang nichts auf. Er war Rotkreuzfahrer, sympathisch und fürsorglich. Maja kam im Beruf vorwärts, hatte Freude am Leben und zog zu ihm. Doch mehr als ein Mal schlug mir aus ihrem Mund eine Alkoholfahne entgegen, ab und zu lallte sie beim Sprechen.“
Die Eltern bemühten sich nach Kräften, ihre Tochter wenigstens vom Hochprozentigen fernzuhalten. Sie liefen von einer Beratungsstelle zur nächsten, um zu lernen, sich richtig zu verhalten. Sie ließen sich von einem Psychologen betreuen, damit sie die Belastungen besser schultern konnten. Emma sagte sich von ihrer Schwester los.
„Wenn sie uns besuchen kam, bettelte sie auf Knien um einen Schnaps. Sie randalierte jedes Mal, verletzte sich, warf sogar mit Stühlen um sich, stahl Geld und Wertsachen. Wir durften kein Erbarmen zeigen, das war kontraproduktiv. Mir zerriss es jedes Mal das Herz. Wenn sie noch einmal betrunken kommt, sollen wir sie abweisen, empfahlen uns die Leute von der Beratungsstelle.
Maja verlor ihre Arbeit, die Wohnung und zuletzt auch ihren Freund. Zum Glück erhielt sie einen Platz in einer Entzugsklinik, ist aber schon einmal weggelaufen. Wir dürfen sie nicht bei uns aufnehmen, so hart es auch ist. Sobald das Telefon klingelt, fürchte ich, dass die Polizei am Apparat ist und sagt: Kommen Sie schnell, Ihre Tochter liegt – was weiß ich wo!“
Als Luisa und ich uns im neuen Jahr trafen, fragte ich sie, wie Weihnachten für ihre Familie gewesen sei. Sie schluckte schwer und sagte nach kurzer Pause: „Ich kann es kaum sagen. Am Heiligen Abend ging Maja nicht ans Handy, aber um drei Uhr nachts läutete es Sturm an der Haustür. Hätte Bert mich nicht mit aller Kraft festgehalten, ich wäre zur Türe gerannt, so schnell ich nur konnte, und hätte meinem Kind geöffnet. Es war kaum zu ertragen!“
Luisa und ich haben schon viele Jahre keinen Kontakt mehr. Aber jedes Weihnachten denke ich an sie und Bert und Maja.
Foto: Kathy Lee /unsplash
© scritta 2022-11-23