von Nadine Krause
Sie stand auf, trabte runter Richtung Ufer, sprang über die nassen Felsen und stand einige Meter vor dem Wasserfall. Es war eine Stelle, die sehr einladend aussah und es war leicht, direkt bis vor den Wasserfall zu kommen. Er war weit genug weg, damit sie nur ein paar Sprenkel Tröpfchen abbekam. Auf dem Display sah es aber so aus, als würde sie direkt davor stehen. Ich ging hinterher, um so nah wie möglich dran zu sein. Den Rest konnte ich mit der Kamera zoomen. Ich fotografierte auch gerne zu Hause. Woher sie das wohl wusste? Es war unglaublich. Die Farbe der hellen Sommernacht wirkte wie eine Filmkulisse. Sie hatte den Wollmantel leicht geöffnet. Sie trug eine Unterhose in einem dunkelgrünen Satin ansonsten nichts. Dennoch gelang es ihr, ihre Brüste nur erahnen zu lassen. Ich würde es nicht mal ein Nacktfoto nennen, was ich da schießen sollte, es war eigentlich Kunst. Sie winkte mir und rief laut »Jetzt«! Ich fotografierte ein paar wenige Augenblicke. Sie setzte sich kokett in Szene, aber sie wirkte nie affektiert, nie obszön. Diese Fotos entstanden nur für Lilja selbst. Ich war der Überzeugung, sie wollte die Erinnerungen an einen magischen Ort, zu einer Zeit, in der sie als Frau wunderschön und jung war. Ich wagte es nicht, auf eines der Fotos länger zu schauen, als sie im Display erschienen, aber ich schoss viele von ihr. Sie hatte die Kamera vorher entsprechend eingestellt und die perfekte Nacht gewählt. Die Bilder waren traumhaft und ihr Wunsch hatte sich erfüllt. Es war für uns beide tatsächlich ein Abenteuer. Als sie zurückkam, war ich noch nervöser als bei unserer ersten Begegnung. »Ok, du hast gewonnen, das war für das erste Abenteuer ganz gut. Ich gehe mal zurück zur Hütte, meine Schwester wartet bestimmt. Bis dann!«, rief ich und joggte den Weg runter und drehte mich gar nicht mehr um. Ich zitterte vor Kälte und konnte gar nicht verstehen, wie sie sich kaum bekleidet vor den Wasserfall stellen konnte. Es war bestimmt unhöflich, sie so stehenzulassen, aber ich war einfach zu nervös um sie wieder anzusehen oder mit ihr ungezwungen zu plaudern. Ich kam ein wenig atemlos in der Hütte an und Sarah saß mit angewinkelten Beinen im Bett und schrieb in ihr Reisetagebuch. Dabei suhlte sie sich darin, mich mit ihrer arroganten Art gekonnt zu ignorieren. Ich sagte nur »Hi« und holte meine Sachen zum Duschen. Mittlerweile war es mir so kalt, dass ich auch mit den Zähnen klapperte. Sicher war es auch die Nervosität. Ich wollte nur noch unter das heiße Wasser. Es tat gut, außerdem fühlte ich immer eine Art Neustart nach dem Duschen. Als ich aus der hölzernen Badestation schritt, die einfach in dieser unglaublichen Wildnis lag, sah ich Lilja auf mich zukommen. Sie schritt grazil auf mich zu und versuchte mit zusammengepressten Lippen ein Lächeln verkneifen. Die Wassersprenkel auf ihren Locken machten mich sprachlos. Sie wurde immer zauberhafter, was sich auf meine Nervosität ziemlich schlecht auswirkte. Ob sie sich ihrer Anziehungskraft und ihrer Schönheit bewusst war? »Na, du hast es aber eilig gehabt!«, sagte sie fast schon streng. »Ich habe mir die Fotos angesehen. Ich wusste, dass du fotografieren kannst.
© Nadine Krause 2024-03-05