Die Frühlingswiese

FRANI

von FRANI

Story

Ich beobachte die Schmetterlinge, die über die blühende Wiese schweben. So leicht und wunderschön. Ich träume nachts oft, wie ich über diese Wiese renne. Dann ändert sich der Traum und meine Füße bleiben im sumpfigen Boden stecken. Ich schreie hilflos, während mich die Erde verschluckt. Die Albträume werden von Woche zu Woche schlimmer. Aber Tante Magarete meint, dass ich jetzt, wo Elias nicht mehr in meinem Zimmer wohnt, besser schlafen werde.

Ich beiße vom zuckersüßen Zitronenkuchen ab und verziehe das Gesicht. Wie konnte ich Tantes Kuchen als Kind nur so lieben? Unauffällig werfe ich den Rest in die Wiese. Ich schaue mich zu den restlichen Kindern um. Alle hocken staunend neben Süßigkeiten und frischer Limonade auf rot karierten Decken und beobachten, wie der Frühling die Welt zum blühen bringt.

Elias sitzt ganz hinten neben Tante Magarete. Sein Kopf ist auf die Brust gesunken und auf seinem Schoß liegt ein altes Buch. Er ist beim lesen wohl wieder eingeschlafen. Es ist traurig, dass mein bester Freund nicht mehr mit mir ein Zimmer teilt. Die Heimleitung meinte, dass es an der Zeit ist, Elias zu den Jungs ins Nachbargebäude zu schicken. Bedrückt fahre ich mit meinen Fingern über die Narben auf meinen Handinnenflächen. Nun wird mich keiner mehr aus meinen Albträumen wecken können.

Eine Erzieherin setzt sich neben mich und lächelt mich an. “Sophie, willst du nicht nochmal von deiner Limonade trinken?”, fragt sie freundlich und hebt mir die kleine Flasche mit einem Strohhalm hin. Ich schüttle meinen Kopf. “Was ist los, Sophie? Du trinkst die doch sonst so gerne?” Ich würde am liebsten wieder den Kopf schütteln, doch ich traue mich nicht. Alle Kinder lieben die Limonade. Alle Kinder lieben Tante Magarete. Außer ich.

Ich nehme die Flasche und trinke einen kleinen Schluck. Während die pure Süße meinen Hals hinunter läuft, prickelt es auf meiner Zunge. Ich zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht und stelle die Flasche vorsichtig auf die Decke. Die Erzieherin nickt zufrieden und geht zum nächsten Platz. Plötzlich bin ich wütend.

“Hexe”, flüstere ich leise und beobachte, wie weitere Frauen immer wieder die Flaschen den Kindern anbieten. Plötzlich finde ich die Wiese überhaupt nicht mehr schön und ich möchte am liebsten wieder ins Zimmer. Ich ziehe meinen Körper über die Decke und hebe mich unbeholfen in meinen Rollstuhl. Schwer atmend versuche ich die Bremse zu lösen. “Nicht doch, Sophie.” Tante Magarete kniet sich vor mich hin und lächelt. Ich merke, wie mein Herz schneller schlägt. Ich habe unfassbar große Angst. Ich möchte wieder in mein Zimmer, denn da bin ich sicher.

“Hier, trink noch ein wenig Limonade, Sophie.” Die Frau mit ihren kastanienbraunen Augen und den schneeweißen Haaren schiebt mir den Strohhalm in meinen Mund. Panisch trinke ich einen großen Schluck. Hustend drehe ich meinen Kopf weg und blicke auf die Wiese. Und da sehe ich sie. So viele schöne Schmetterlinge.

© FRANI 2022-03-10

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