Mama bezeichnete sie jedenfalls so, und ich verstand damals noch gar nicht, was damit gemeint war. Mein grosser Bruder nahm mich einmal zur Seite und sagte sehr eindringlich:“Wir müssen der Mama jetzt helfen, auch wenn du das Ganze noch nicht verstehst.”
Mama helfen, das hiess, Rosi auszuforschen. Rosi, so hiess sie, Papas angebliche Geliebte. Ich war damals ein Volksschulkind, sechs oder sieben Jahre jung. Mein Bruder war acht Jahre älter, im Sturm- und Drangalter. Ich liebte es, an seiner Hand zu gehen, die er mir meistens verwehrte, weil andere Mädchen mich sonst für seine Freundin halten könnten. Wenn wir aber zur Rosi gingen, da hielt er mich fest an der Hand.“Keine Ahnung, was der Papa an der findet. Mama ist doch viel schöner.”
Einige male “durfte” ich also mit Helmut spionieren gehen. Rosi arbeitete auf der Mariahilferstrasse, beim Esders, einer Bekleidungsfirma. Wir sollten nur ja aufpassen, dass wir nicht entdeckt wurden! Ich glaub, ich war bis dahin noch nie so aufgeregt wie damals.Zwar hatte ich noch keine Vorstellung, wie eine Geliebte aussehen sollte, aber wunderschön musste sie schon sein, das war für mich eine Voraussetzung.
Helmut und ich drückten uns in einen Hauseingang mit Blick auf den Esders. Es war Betriebsschluss. Neben dem Personalausgang stand unser Papa. Er ging auf eine Frau zu, küsste sie auf die Wange und nahm ihr eine grosse Einkaufstasche ab. Dann gingen sie gefährlich nahe an uns vorbei. Papa strahlte wie sonst nur bei gelungenen Familienfesten in unserem Speisezimmer, und Rosi strahlte zurück. Rosi. Mehr breit als hoch mit wildem krausen Haar, watschelte sie neben Papa zum Busbahnhof. Ich war entsetzt. Helmut hatte recht gehabt, Mama war viel schöner. Und doch spürte ich zwischen diesen beiden Menschen auch aus der Entfernung eine grosse Freude, wie ich es zwischen meinen Eltern nie erlebt hatte.
Ich kann mich jetzt nicht mehr erinnern, wielange dieses Spionieren gedauert hat, ich war nur ein paarmal dabei. Es war immer dasselbe. Papa ging glĂĽcklich neben Rosi, gab ihr zur BegrĂĽssung und zum Abschied ein Bussi und winkte ihrem Bus nach. Wir wurden nie entdeckt, weil wir dann schnell nach Hause liefen und Mama immer dasselbe berichteten.
Und dann geschah etwas völlig Unerwartetes. Wir fuhren alle zur Rosi nach Laxenburg, Papa, Mama, Helmut und ich. Mama wirkte neben ihr wie eine Schönheitskönigin. Aber Rosi strahlte eine derartige Herzenswärme aus, ich mochte sie auf Anhieb. Da verstand ich auch, was sie für Papa bedeutete. Genau das fehlte Mama, ihr Leben war grau und trist. Damals hab ich mich gefragt, ob Papa ohne Mama fröhlicher gewesen wäre, und ob Mama ohne Papa auch so herzlich hätte strahlen können?
Irgendwann, Monate später, war Rosi Geschichte. Die Ehe meiner Eltern wurde dadurch keineswegs harmonischer. Rosi fehlte mir irgendwie, ihr herzliches Lachen, ihre weiche, warme Umarmung.
Jahrzehnte später erzählte ich Papa davon, er weinte bitterlich, Und ich verstand ihn nur zu gut…
© rebella-maria-biebel 2022-11-25