von Momo Dio
Es war einmal vor langer Zeit, da lebte eine unerzählte Geschichte. Sie wohnte in einem ungebauten Haus an einem unbekannten Ort. Sie bestand bisher nur aus lauten und zusammenhanglosen kleinen Sätzen, z. B. „Ich das dir, du oder?“ Ihre Länge war überschaubar, ihrem Spannungsbogen fehlte Faden und Pfeil. Trotz dessen gab es kein Zweifel daran, dass sie eine Geschichte war. Den laut Definition hat eine Geschichte etwas zu erzählen, und genau das hatte sie, auch wenn sie damit nicht zufrieden war. So begann ihr erstes Kapitel.
Eines wusste sie. Die besten Geschichten hinterlassen eine Spur. Ob durch ausgelöste Trauer, Freude oder Grübelei spielte dabei keine Rolle. Jede Geschichte erzählt in ihrem eigenen Stil und Tempo. Die Länge ist dabei meist intuitiv. Die Geschichte hört auf, wenn sie sich danach fühlt. Nun war es an ihr herauszufinden, welche Geschichte sie sein wollte. Dabei ließ sie sich ganze 4 Kapitel Zeit und ihr wurde klar, eine Novelle würde sie nicht werden.
Sie wusste auch nach dem 5 Kapitel nicht, wer sie war. Weshalb sie sich entschied, eine Reise anzutreten. Sie spazierte durch Berge, Landschaften, Täler, Bäche, kam an Flüssen vorbei und lernte allerart Tiere kennen. Einmal sah sie auch ein kleines Haus von einem Einsiedler. Alle diese Dinge schaute sich die Geschichte an. Mit der Liebe zum Detail und einem ruhigen Erzählstil nahm sie all das in ihre Geschichte auf. Wunderschöne Beschreibungen. Es war, als würde sie ihre Leser in einer Wohlfühloase beherbergen. Nach 8 weiteren Kapiteln sehnte sie sich nach Abwechslung. Drama sollte ihr nächster Schwerpunkt werden. Deshalb ging sie zu den Menschen.
Dort lernte sie Gefühle kennen. Sie lernte, was es bedeutete zu streiten, unsterblichen verliebt zu sein, ein gebrochenes Herz zu haben, Wut, Trauer und viele mehr. Die Geschichte erkannte, dass sich einzelne Gefühle kombinieren ließen und unterschiedlich nuanciert werden konnten. Durch die lange Zeit, die sie bei den Menschen verbrachte, konnte sie gute von schlechten Monologen und Dialogen unterscheiden und genauso problemlos formulieren. Dieses Chorreh liebte sie sehr, weshalb sie 20 Kapitel darüber schrieb und ihr wurde klar, sie würde nicht in ein Buch passen.
Niemand hat je festgelegt, wie lange eine Geschichte sein sollte oder das eine Geschichte überhaupt enden muss oder nur ein gewisses Alter erreichen darf. Unsere Geschichte war mittlerweile schon 200 Kapitel alt, doch ihre Lust am Schreiben war bloß gestiegen. Also erzählte sie weiter, kombinierte Chorreh, erfand neue Worte, erschuf Wesen in fantastischen Welten und kombinierte aufs Neue. Auch nach 1000, 5000, 12000 und 30000 Kapiteln. Sie wird heute noch geschrieben und vermutlich auch in der Zukunft.
Endlich wusste sie, wer sie ist. Die unendliche Geschichte.
© Momo Dio 2024-03-31