von Susan Lüdecke
Mein Rucksack ist fast fertig gepackt. Morgen früh geht der Flug nach Sizilien. Es klingelt an der Tür. Bevor ich reagieren kann, hämmert eine Hand dagegen. Mit langen Schritten poltere ich über den Flur und reiße die Tür auf. Vor mir stehen ein Schrank von einem Polizist und eine blonde Polizistin. Sie machen ernste Gesichter. Jetzt ist es passiert, denke ich. Mein unter mir wohnender Nachbar, ein älterer, alleinlebender Herr, ist tot und niemand hat es bemerkt. Mein Alptraum, wie ich ihn mir oft nachts im Bett ausgemalt habe, wenn ich von unten nichts gehört habe.
„Juten Tach. Evakuierung. Ham Se die Durchsage nich jehört?“
„Welche Durchsage?“
„Wir fahren hier seit Stunden mit nem Lautsprecherwagen durch die Straßen. Evakuierung wegen Bombenfund, hinten bei de Baustelle. Sie sind die Letzte hier im Haus.“
„Äh… ich wohne hinten raus. Ich höre nur Vögel, die Müllmänner und ab und zu Flugzeuge.“
„Is ja schön, so ruhig zu wohnen und das mitten inne Stadt. Aber raus müssen se trotzdem, nützt ja nüscht.“
Alle möglichen Fragen schießen mir gleichzeitig durch den Kopf und blockieren mich. Was für eine Bombe? Wann komme ich wieder in meine Wohnung? Was soll ich mitnehmen?
„Kann die janze Nacht dauern. Richten Se sich druff ein.“ Der Polizist klingt ungeduldig und tritt von einem Bein auf das andere.
Der Müll muss noch raus. Sonst modert der drei Wochen vor sich hin, das verstehen sie. Dann aber ist Schluss. Sie haben noch ein Seniorenheim zu evakuieren. Ich setze meinen Rucksack auf, schließe meine Wohnung ab und gehe, gefolgt von den beiden Polizisten, die Treppe herunter. Hinter mir höre ich die Polizistin in ihr Funkgerät sprechen:
„Jetzt alles leer. Straße kann abgesperrt werden.“
Sie begleiten mich zur Ecke und ziehen dann hinter mir ein Flatterband quer über meine Straße. Die Bornholmer Straße ist voll mit verwirrten Menschen mit Kleintieren in Transportboxen. Sie sitzen an der Haltestelle der Tram und auf Mauervorsprüngen und wischen auf ihren Handys herum. Anja ruft an. Sie hat es im Radio gehört und bietet mir einen Schlafplatz an. Sie wohnt nicht weit entfernt und da wir morgen zusammen in den Urlaub fliegen, nehme ich an.
Vor mir koppeln zwei Männer mit Bauhelmen einen Anhänger von einem LKW ab. Er ist gelb und darauf liegt ein zusammengeklappter Mast mit einem breiten, schwarzen Querstreben.
„Dit is ne Lichtgiraffe. Die kann man ausfahren und von oben die Grube beleuchten.“, höre ich im Vorbeigehen. Ich sehe mir später Bilder im Internet an und bin fasziniert.
Um vier Uhr morgens gibt die Polizei über Twitter Entwarnung. Da schlafe ich längst und träume von Cannoli, Arancini und Granita. Ich stelle mir gern vor, dass die Lichtgiraffe nach getaner Arbeit gezwinkert hat.
© Susan Lüdecke 2022-03-07