Die gläserne Wahrheit

Selina Solis

von Selina Solis

Story

Es war ein stĂĽrmischer Freitagabend, und der Regen trommelte unaufhörlich gegen die Fensterscheiben. Calia stand am Fenster, die Stirn gegen das kalte Glas gelehnt, und lieĂź ihren Blick ĂĽber die durchnässten StraĂźen schweifen. „Was fĂĽr ein miserabler Tag“, dachte sie und seufzte tief. Ein lauter Krach riss Calia aus ihren trĂĽben Gedanken. Sie zuckte zusammen und Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch, wo ihr Rucksack vom Stuhl gefallen war. Darunter lag ein Buch, das aus der geöffneten Tasche hervorragte – das Buch, das ihre beste Freundin ihr erst vor Kurzem geliehen hatte. Es war ein dickes, altmodisch aussehendes Buch mit einem dunklen, lederartigen Einband, ohne erkennbaren Titel. Calia runzelte die Stirn. Sie hatte dieses Buch total vergessen, obwohl ihre Freundin betont hat wie besonders es sei. „Dieses Buch ist anders“, hatte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln gesagt. Calia hob das Buch auf und lieĂź ihre Finger ĂĽber den glatten, lederartigen Einband gleiten. Etwas an diesem Buch war anders. Zögernd setzte sie sich auf ihr Bett, klappte den Einband auf und begann zu lesen. Die erste Seite war leer, bis auf drei Worte, die wie von unsichtbarer Hand in tiefschwarzer Schrift geschrieben standen: „Es war einmal…“ Calia runzelte die Stirn. Ein Märchen also. Sie blätterte zur nächsten Seite, und der Text begann, sich wie von selbst vor ihr aufzubauen. Es war ein Märchen, das von einem Mädchen erzählte, das in den Bann eines alten Spiegels geriet. Sie lieĂź ihren Blick auf den groĂźen Spiegel in ihrem Zimmer schweifen. Der Rahmen schien dunkler zu werden, die Oberfläche undurchsichtig. Ein FlĂĽstern erklang, tief und unheimlich: „Schau hinein.“

Langsam stand sie auf und trat näher. Sie sah sich selbst, doch ihr Spiegelbild wirkte fremd. Die Augen waren leer, und das Lächeln… es war nicht ihres. Ehe sie reagieren konnte, schoss eine kalte Hand aus dem Spiegel und packte sie. Sie schrie, doch der Klang verschwand in der Stille des Zimmers. Alles wurde schwarz. Calia blinzelte. Der Raum um sie herum war still, abgesehen vom leisen Trommeln des Regens an der Fensterscheibe. Sie saĂź auf ihrem Bett, das Buch noch immer in ihren Händen, die Finger um den kalten Einband geklammert. Ihr Herz schlug schneller, als sie sich umsah – war sie eingeschlafen? „Was fĂĽr ein verrĂĽckter Traum…“, murmelte sie und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie die Augen geschlossen hatte. Der Sturm drauĂźen, die seltsamen Gedanken, das Buch – all das hatte sich in einen wirren Albtraum verwandelt. Calia klappte das Buch zusammen, warf es auf ihren Schreibtisch und schaute in ihren Spiegel. Ihr Gesicht blickte ihr entgegen, doch es war nicht ganz ihr Gesicht. Die Augen, die sie anstarrten, waren tiefer, schwärzer, wie zwei bodenlose Löcher. Und dann geschah es – das Spiegelbild lächelte. Nicht ein zaghaftes, unsicheres Lächeln, wie Calia es vielleicht selbst in diesem Moment gezeigt hätte, sondern ein kaltes, berechnendes Grinsen, das nicht zu ihr passte. Das Wesen, das ihr Gesicht trug, flĂĽstere ihr zu: „Mach dir keine Sorgen, Ich werde dein Leben gut fĂĽhren. Vielleicht besser, als du es je konntest.“ Calia konnte nur erstarrt zusehen, wie die Gestalt die TĂĽr hinter sich zuzog, während ihr Lachen, tief und kalt, wie ein Fluch nachhallte. Im Spiegel jedoch blieb die Wahrheit gefangen: Calia, die hilflos zusah, wie ein fremdes Wesen in ihrem Leben wandelte, als wäre es ihres. Und wenn sie noch nicht gestorben ist, wandelt es noch immer in ihrer Welt.

© Selina Solis 2024-11-20

Genres
Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Dunkel, Mysteriös, Dark