von Brigitte Böck
Eineinhalb Zimmer, ein Tante Emma-Laden, 7 Personen, das war bis zum 15. Lebensjahr mein Zuhause. Es gab keine Privatsphäre, keinen eigenen Besitz und keinen Winkel, in dem wir etwas verstecken konnten, was der Vater nicht fand.
Eines Tages lag in einer Ruine eine wunderschöne Glasmurmel, durchsichtig mit bunten Fäden durchzogen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich auf einem Stein saß und diesen kostbaren Schatz betrachtete. Ich drehte ihn in der Sonne und die Farben veränderten sich. Ich gab mich diesem Zauber hin und vergaß die Zeit. Der Pfiff meines Vaters holte mich in die Realität zurück, ich lief sofort los. Wohin mit meinem gefundenen Schatz? Ich steckte ihn in meinen Socken und lief über die Straße nach Hause.
Beim Abendbrot versuchte ich, so zu sitzen, dass man die Beule am Strumpf nicht sah, aber der Vater sah alles.
Was hast du da? Luft anhalten, stottern, ich griff nach der Murmel und hielt sie ganz fest in meiner Hand. Er nahm sie mir weg und befahl, sie in den Mülleimer zu werfen. “ Nein“, sagte ich und biss die Zähne zusammen. Er: „Wenn der Vater etwas befiehlt, dann sagt man: Ja lieber Vater.“ Und ich sagte etwas zaghafter:“Nein!“, da bekam ich eins hinter die Ohren. Er sollte nie meine Tränen sehen hatte ich geschworen, und so versteifte sich mein ganzer Körper. Er packte mich am Arm und zog mich auf die Straße. Am Bordstein war ein Gully. Dort blieb er mit mir stehen. Er gab mir die Glaskugel in die Hand und sagte: „Wirf sie hinein!“ Ich presste meine kleine Faust so fest zu, dass es weh tat. Gewaltsam öffnete er meine Hand, nahm die Murmel und warf sie in den Gully. Es machte plumps und meine Kinderseele plumpste hinterher. Mir wurde eiskalt und ich dachte: „Wenn ich groß bin, dann bringe ich dich um!“ Und dann gab er mir eine Lehre für mein Leben:
„Hänge niemals dein Herz an materielle Dinge! Hast du das verstanden?“ Es hatte mir die Sprache verschlagen. Er führte mich in die Wohnung, fragte noch einmal, ob ich das verstanden habe, ich presste die Lippen zusammen. Hätte ich sie geöffnet wäre nur ein nicht endenwollender Schrei heraus gekommen. Tagelang sprach ich kein Wort.
Er gab mir Papier und einen Stift und befahl: “ Schreibe 20 Mal: ich hänge mein Herz nie an materielle Dinge!“ Ich tat es, weil ich kaum noch Luft bekam, in mein Bett wollte, um endlich die schmerzenden Tränen laufen zu lassen.
Diese Erfahrung prägte, ohne dass ich es wollte, mein ganzes Leben. Materielles hatte nie einen Reiz für mich. Der Schmerz ist schon lange vorbei, wenn ich das Notwendige habe, was ich zum Leben brauche, dann bin ich zufrieden und empfinde keinen Mangel. Schenken ist ein so wärmendes Gefühl und ich werde dadurch nicht ärmer, sondern reicher. Ich habe mit diesem Mann und meiner Kindheit Frieden geschlossen.
Heute, im Alter bin ich dankbar, dass ich die lieblose, brutale Lektion meines Vaters umwandeln konnte. Ich kann loslassen und den Reichtum in mir finden. Das heißt für mich, nicht mehr von Außen nach Innen, sondern von Innen nach Außen zu leben.
© Brigitte Böck 2020-08-13