von Mira Wagener
„Kennst du sie?“, spricht mich eine bekannte Stimme von der Seite an und ich drehe mich zu meiner Freundin Bianca um, die sich zu mir gelehnt hat und unauffällig zur Seite in den Gang nickt. „Ich glaube, wir sind in einem Kurs zusammen.“
Ich drehe meinen Kopf leicht in die Richtung, in die sie deutet und entdecke eine Gruppe Schülerinnen neben den Spinden stehen. Ein Mädchen unter ihnen lacht besonders laut auf und zieht die Blicke der anderen in der Gruppe auf sich. Sie besitzt lange braune Locken und trägt eine Brille zu ihren Markenschuhen und der Skinny-Jeans. Rasch wende ich den Blick wieder ab, denn ich habe das Gefühl, mir wird übel.
„Nicht mehr“, antworte ich düster und wünsche mir, dass Bianca das Thema damit fallen lässt. Ich habe keine Lust in der Vergangenheit zu graben.
„Ich habe ihren Namen schon wieder vergessen. Ich glaube, sie heißt wie eine griechische Göttin oder so“, fügt sie hinzu und ich nicke.
„Ja“, bestätige ich, bemühe mich aber nicht um Erklärungen. Leider löst ihr Anblick allerlei Erinnerungen in mir aus. Wir waren einst sehr gut befreundet. Nun, wenn man mit seinem größten Mobber befreundet sein kann. Ich habe mehr ihretwegen geweint, als mit ihr gelacht. Ich habe mich mehr in ihrer Gegenwart geschämt, als Unterstützung von ihr erhalten zu haben. Ich musste mehr als Witzobjekt für sie da halten, als dass sie mich je als witzig bezeichnet hat. Ich habe sie aus tiefstem Herzen gehasst und geliebt. Ich habe sie verehrt und es war mir unmöglich sie zu verlassen. Sie hat mich unterdrückt, erpresst, ausgelacht und im nächsten Moment waren wir unzertrennlich. In ihrer Gegenwart war ich so blind und naiv, dass ich heute nur noch über mich selber den Kopf schütteln kann. Ich wollte damals nicht, dass sie mich verlässt, geschweige denn konnte ich ihr den Rücken zuwenden. Ich war gefangen in ihrer Erbarmungslosigkeit und ihrem Bedürfnis nach Macht über ihren Mitmenschen machtlos ausgesetzt. Am liebsten würde ich jeden Menschen in diesem Flur vor ihr warnen, aber ein Teil von mir hatte noch immer Angst vor ihr. Ich bezweifelte, dass ich ihr je würde verzeihen können, egal wie jung und unreif wir damals waren. Auch ich mache Fehler und wir alle leben zum ersten Mal, doch was sie mir angetan hat, hätte ich ihr im Leben nicht angetan.
„Auf jeden Fall kommt sie mir ein bisschen unsympathisch vor“, reißt Bianca mich aus meinen Gedanken und zuckt unwillig mit ihren Schultern. Ich werfe ihr einen erleichterten Blick zu.
„Gut“, kommentiere ich und räuspere mich gleich darauf, weil, das dann doch ein wenig unfair klingt. „Ich meine: Gut, dass du dir bei deinen neuen Kursen bereits einen Überblick über die anderen gemacht hast.“ Sacht lächele ich ihr zu und stelle erleichtert fest, dass sie meinen Blick mit einem warmen Ausdruck erwidert. Es scheint beinahe so, als könne sie verstehen, dass ich nicht weiter über die Thematik sprechen möchte und mich unterstützen will. Mit einem Blick zurück zu den Spinden begreife ich, dass Freundschaften nicht immer zerstörerisch sein müssen.
© Mira Wagener 2024-08-05