Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel

Susanna Zeller

von Susanna Zeller

Story

„Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, sondern wir schaffen sie selbst, sie liegt in unseren Herzen eingeschlossen“ (Dostojewski).

Ich nehme an, es ist kein Zufall, dass mir dieser Satz gestern zwei Mal „aus heiterem Himmel“ begegnet ist. Einmal beim Kramen in meiner Kreativlade, wo ich ihn bei Kalligraphie-Übungen schon vor langer Zeit aufgeschrieben und wieder vergessen habe, und später, als ich einen Einkaufszettel schreibe, auf dessen Blattunterseite dieser Spruch aufgedruckt ist.

Die Worte klingen fast wie ein Auftrag, nachhaltig, darum vielleicht gleich in doppelter Form. Und gerade, weil sie mir zwei Mal am selben Tag vor Augen geführt werden, stoßen sie in mir auf Resonanz und klingen nach.

Am Nachmittag beschließe ich, endlich wieder einmal meine 92-jährige Omi zu besuchen. Gute Zeiten – mit ihr hatte ich sie immer, sie wusste auch immer, wie man sich gute Zeiten schaffen kann, selbst wenn die Lebensumstände hart, verwirrend und kräftezehrend waren.

Ich sehe sie heute viel zu selten, aber sie wird immer mein Leitstern sein. Der Satz mit dem “Schaffen der guten Zeit”, der passt einfach zu ihr wie die Faust aufs Auge. In ihrem Herzen hatte sie stets einen Vorrat davon, auf den sie den Zugriff nicht verloren hat. Das hat ihr bestimmt dabei geholfen, auch in schlechten Zeiten das Gute zu sehen.

Als ich Omis Raum betrete, liegt sie in ihrem Lieblingsnachthemd auf dem Bett, verfolgt eine Fernsehsendung und lauscht interessiert der dort geführten Unterhaltung.

Man könnte meinen, dass ihr Dasein, das sie heute zum Großteil in ihrer Einzimmerwohnung verbringt, ein bisschen öde für sie ist. Aber sie hat sich noch nie darüber beschwert, und ihr reicht die Ablenkung, die sie durch die, die sich um sie kümmern und die sie besuchen oder immer wieder mal für ein paar Stunden zu sich holen, bekommt.

Als sie mir, nachdem sie das TV-Gerät ausgeschaltet hat, erzählt, dass der berühmte Fernseharzt, den sie regelmäßig über die Flimmerkiste „konsultiert“, ihr aus dem Fernseher zugewunken hat, widerspreche ich ihr nicht. Ich weiß mittlerweile, dass ihre Realität und ihre Phantasiewelt sich des Öfteren vermischen.

Während sie in Vielem noch ganz klar ist, erzählt sie auch Geschichten, die nicht wirklich wahr sein können, die sie ihrem Empfinden nach aber erlebt hat. Und das Wichtigste: sie hat mit den Menschen, denen sie dabei begegnet, eine gute Zeit.

Ich habe das Gefühl, dass sie sich heutzutage nicht mehr alleine fühlt, dass das Alter eine Art Schutzmantel über sie gebreitet hat, unter dem sie immer in guter Gesellschaft ist, und wo es ihrem Geist erlaubt ist, sich zu unterhalten, mit wem immer sie möchte.

Dankbar für die gute Zeit, die wir uns gestern gegenseitig geschaffen haben, fahre ich nachhause. Sie ist vielleicht nicht vom Himmel gefallen, aber ich glaube schon, dass der Himmel uns manchmal dazu anleitet, die Gelegenheiten zu nutzen, um etwas wirklich Gutes aus unserer Zeit zu machen, indem wir unsere Herzen dafür öffnen.

© Susanna Zeller 2022-06-02