von Ulrike Sammer
Ja, die ganz großen Gefühle – ich kenne sie!
Ich kann an zwei Händen abzählen, wann und wobei mir das Herz überging und ich lautstark meinen Gefühlen Ausdruck verlieh.
Aber – ändert sich nicht der Ausdruck im Laufe eines Lebens? Macht man in fortgeschrittenem Alter noch Luftsprünge? Und heißt die stillere Freude, dass man sich dem Glück mehr und mehr verschließt?
Es ist wohl die Hauptsache, man bleibt offen für die guten Momente, lässt sie ins Bewusstsein dringen und gibt dem Seelenleben damit „Futter“.
Als ich vor etlichen Jahren in der Psychiatrie des Allgemeinen Krankenhauses in Wien als Psychotherapeutin arbeitete, erfand ich (gemeinsam mit einer Kollegin) die „Tagebuchtherapie“. Wir gaben unseren depressiven PatientInnen die Aufgabe (unter anderem) täglich drei „gute Dinge“ aufzulisten. Diese konnten auch völlig banal sein: „Die Sonne scheint beim Fenster herein“, „der Nachtisch hat mir gut geschmeckt“… Das war für manche zuerst lächerlich, dann gewöhnungsbedürftig und schließlich war es bereichernd. Es zeigte sich, dass Vieles als so alltäglich angenommen wird, dass es kaum mehr auffällt. Und wenn die guten Momente in der Bedeutungslosigkeit versinken, nehmen im gleichen Maß die „miesen“ Gedanken überhand.
Und genau das ist der Punkt!
Unsere PatientInnen veränderten langsam die Sichtweise auf ihr Leben und konnten die ständig kreisenden, negativen, belastenden, dunklen Gedanken zumindest ein bisschen zurück drängen.
Ich habe in meinem Leben einige Schicksalsschläge verkraften müssen und doch betrachte ich mich als „Glückspilz“. Ich habe mir zur Gewohnheit gemacht, selbst in sehr dunklen Zeiten, aktiv die täglichen „guten Dinge“ zu registrieren. Und ich habe mit Erstaunen festgestellt, wie viele kleine Glücksmomente mich dauernd begleiten:“… gerade noch die Straßenbahn erwischt“, „ein paar wunderschöne Fotos mit Herbstlaub gemacht“, „das Lachen meiner kleinen Enkelkinder, wenn ich ihnen eine komische Geschichte vorspiele“, „ der sehr nette Anruf einer Freundin aus dem Ausland“, „endlich geschafft, mich von meiner alten Jacke zu trennen“, „ein neues Rezept ausprobiert und es hat gut geschmeckt“….
Jedes Mal habe ich mir bewusst gemacht, wie gut ich es eigentlich habe. Und diese Fülle machte mich satt. Ich fühlte mich vom Schicksal geliebt und konnte mich dadurch über Vieles hinweg trösten!
Freude darf nie mehr die Ausnahme sein!
© Ulrike Sammer 2020-06-17