Die Harpyie – Teil 1

Uli Michael Hennig

von Uli Michael Hennig

Story

In meinem langen Leben als Ornithologe habe ich die farbenprächtigsten, wohlklingendsten und verrücktesten Vögel auf diesem Planeten gesehen. Doch ein Erlebnis in den jungen Jahren meiner Tätigkeit hätte mich fast augenblicklich dazu gebracht, meinen Traum und meine Leidenschaft für immer aufzugeben.

Ein paar Jahre nach dem Abschluss meines Studiums wagte ich mich in die tropischen Wälder Südamerikas, um dort den sagenumwobenen Greifvogel namens “Harpyie” zu erforschen. Zu diesem Zeitpunkt war noch sehr wenig über das Paarungs- und Brutverhalten dieses Greifvogels bekannt. Daher hatte ich es mir zum Ziel gesetzt, eine Abhandlung nach ausreichenden Forschungen darüber zu verfassen.

Angekommen an den Ausläufern der Regenwälder an der Grenze zwischen Peru und Bolivien, wurde ich von einem Führer in ein kleines Dorf gebracht. Dort befragten wir die Bewohner und erfuhren, dass tiefer im Dschungel eine kleine Siedlung existierte, die diesen Vogel wie eine Gottheit verehrte. So machten wir uns auf die Reise, immer tiefer in das grüne Labyrinth vordringend. Nach ein paar Tagen kamen wir abends in dem besagten Dorf an. Nach dem ausgiebigen Austausch von Geschenken und allerlei Höflichkeiten wurde uns ein Platz für die Nacht zugewiesen. Mein Führer und ich schliefen jeweils in getrennten Hütten. Ich legte mich direkt zur Ruhe, schrieb noch ein paar Zeilen in mein Notizbuch und schlief ein.

Mitten in der Nacht ließ mich der Klang von wild geschlagenen Trommeln aus dem Schlaf aufschrecken. Von großem Interesse gepackt, schlich ich mich an den Eingang meiner Hütte. Ich erspähte eine Ansammlung von rhythmisch tanzenden und trommelnden Dorfbewohnern, die um eine Art Totempfahl herum versammelt waren. An diesem konnte ich im Schein ihrer Fackeln grausame Fratzen mit Flügeln ausmachen. Mit einem Mal vernahm ich das leise Rauschen von Flügelschlägen, die sich schnell näherten. Meine Aufregung steigerte sich ins Unermessliche: Gleich würde ich die majestätische Harpyie erblicken. Die Trommeln verstummten und das Tanzen hörte auf. Man hörte einen lang gezogenen Schrei, ähnlich dem eines Adlers. Ich blickte nach oben und sah einen Schatten vor den Sternen. Dieser ließ sich nun auf dem Totempfahl nieder und wirbelte dabei so einen starken Wind auf, dass die Fackeln fast ausgeblasen wurden. Erst da bemerkte ich, wie gigantisch der Vogel war. Er musste einen Königsadler um mindestens das Doppelte überragen.

Dann wurden aus der Menge zwei junge Frauen, augenscheinlich Zwillinge, vor den Pfahl geführt. Kniend verharrten sie dort, während der Schamane des Dorfes eine Ansprache an den Vogel hielt. Jedoch tat er dies in einem mir nicht geläufigen Dialekt der Ureinwohner dieses Kontinents. Danach zog die Menge sich in ihre Hütten zurück. Bis auf den Schamanen, die Zwillinge und eine weinende Frau, vermutlich die Mutter, befand sich nun niemand mehr auf dem Platz.

© Uli Michael Hennig 2022-08-06

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