Die Harpyie – Teil 2

Uli Michael Hennig

von Uli Michael Hennig

Story

In mir stieg ein schrecklicher Verdacht auf, als ich dieses Szenario beobachtete. Sollten diese jungen Frauen etwa dem Vogel geopfert werden? Der Greifvogel, dessen obere Hälfte noch komplett im Schatten lag, sodass man nur die enorm großen Klauen sah, fing nun an, sich zu regen. Er flatterte ein paar Mal mit den Flügeln und bewegte den Kopf hin und her, was ich nur an dem flackernden Augenpaar erkannte, welches den Feuerschein der Fackeln widerspiegelte. Dann beendete der Schamane seine Litanei mit einem lauten Ausruf, der so unerwartet kam, dass er mich kurz zusammenzucken ließ. Nun trat er zurück, wobei er die wimmernde Frau, deren verzweifelte Rufe sich weiter steigerten, mit sich zog. Die Vogelgestalt regte sich, lehnte sich nach vorne und setzte zum Sturzflug auf die beiden jungen Frauen an. Was ich nun zu Gesicht bekam, ließ mich fast meinen Verstand verlieren und meiner Kehle entrann unbedacht ein Ausruf, in dem Verwunderung und Angst resonierten.

Blitzschnell lenkte der Vogel seinen Fokus auf mich. Jetzt wurde ich durch sein dunkles Augenpaar mit unbändiger, wilder Mordlust angestarrt. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Diese Starre löste sich in Sekundenschnelle wieder auf, als der Vogel absprang und mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit auf mich zuraste. Immer noch benommen von dem soeben beobachteten Schrecken, taumelte ich instinktiv in die Hütte zurück. Doch das half nur wenig. Die Türöffnung bestand nur aus einem Rahmen mit einem einfachen Vorhang aus geflochtenen Binsen. Das Tier landete vor der Hütte und riss mit einem lauten Schrei diesen Binsenvorhang entzwei. Panisch blickte ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Rechts von mir war ein Fenster. Lange dachte ich nicht nach, sondern ergriff die Gunst der Stunde und hechtete zu dem Fenster. Da es recht klein war, musste ich meine ganze Kraft aufbringen, um mich hindurch zu zwängen. Zu meinem Glück brach ein Teil des Fensterrahmens und so konnte ich ungehindert hinaus. Bei der Landung kam ich jedoch so auf, dass ich mir meinen rechten Fuß verstauchte. Ich fiel um und stand unter Schmerzen wieder auf und lief weiter. Hinter mir hörte ich Holz splittern und das Vogelwesen wieder und wieder laut schreien. Ich wagte nicht, zurückzublicken. Doch urplötzlich wurde das Geschrei leiser und endete schließlich in einem erstickten Gurgeln. Trotz all der Panik, die ich verspürte, musste ich mich einfach umdrehen. Was ich dann sah, ließ mich halb wahnsinnig in den Dschungel rennen. Der Vogel, welcher als Harpyie bekannt ist, hatte nichts mit diesem Wesen zu tun. Dieses Wesen war direkt den antiken Mythen entsprungen. Im Fenster, aufgeschlitzt von dem zerbrochenen Rahmen, hing blutend eine Frau mit einem bis auf den Kopf gefiederten Körper, Flügeln und mörderischen Reißzähnen. Das war die wahre Harpyie.

Einen Tag später fand mein Führer mich ein paar Kilometer von diesem barbarischen Dorf und wir kehrten ohne Umwege in die Zivilisation zurück.

© Uli Michael Hennig 2022-08-06

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