von Benjamin Hebrang
Wenn ich in der Zeit zurückgehen könnte, würde ich einiges anders machen. Ich würde nicht mehr so leichtfertig mit Wünschen umgehen und ich würde dem Bibelvers mehr Glauben schenken, der da sagt: „Gott vollbringt große Wunder, die wir nicht begreifen“. Ich habe am eigenen Leib erlebt wie er gleich zwei Wunder vollbrachte. Ich wünschte, er würde auch ein drittes tun, aber es scheint nicht so … Das erste Wunder erlebte ich mit zwei Jahren, als ich meine ersten Worte sprach. Nein, eigentlich schon viel eher. Mit dem ersten lallenden Laut, den ich nach meiner Geburt von mir gab, stand fest, dass ich eine ganz besondere Stimme hatte. Sie verzauberte und beruhigte jeden, der sie hörte. Man könnte sagen, ich hatte die schönste Stimme der Welt. Und es würde wahrscheinlich sogar stimmen, wenn man meine eigene Meinung ausklammerte. Denn für mich war es die schrecklichste, unheimlichste Stimme. Was für andere einem melodischen Gesang glich, war für mich eine krächzende Kakofonie. Weil sie für mich so unerträglich war, redete ich auch nicht oft. Doch schon die wenigen Worte, die ich sprach, halfen mir, Freunde zu finden. Es war beängstigend, wie schnell sie sich um mich sammelten. Als wäre ich ein Magnet oder hätte ihnen einen geheimen Liebestrank verabreicht. Aber was nutzte es mir, beliebt zu sein, wenn ich mich selbst nicht ausstehen konnte?
Als ich etwa fünfzehn Jahre alt wurde, fingen die Schmerzen an. Anfangs juckte mein Hals nur. Es kam immer, wenn ich redete. Später wuchs sich das Jucken zu einem unausstehlichen Brennen aus, das mich beinahe um den Verstand brachte. Die Ärzte sagten mir, es gebe keine Symptome für eine Erkrankung. Der Schmerz entstünde ausschließlich in meinem Kopf. Es war klar, was sie von mir dachten. Sie mussten es nicht aussprechen. Der Junge war verrückt. Und dafür gab es keine Heilung. Wo die Wissenschaft versagte, wandte ich mich an die Religion. Ich war kein religiöser Mensch. Dennoch fiel ich eines Abends auf die Knie und betete zu Gott. Ich flehte ihn an, er möge mir helfen. Ich versprach ihm, er dürfe meine Seele haben und ich würde an ihn glauben. Ich hatte wenig Ahnung vom Glauben, sonst hätte ich es gewusst … Meine Seele lag sowieso in seiner Hand. Und er erhörte mein Gebet. Als ich am nächsten Morgen aufwachte und das erste Mal meine neue Stimme hörte, musste ich vor Freude weinen. Sie war so wunderschön, dass ich mich am liebsten sofort in mich selbst verliebt hätte. Aber schon bald erkannte ich die janusköpfige Wahrheit des Geschenks. Denn nun waren es die anderen, die es vor meiner Stimme graute. Im Gegenteil zu mir konnten sie jedoch vor diesem Grauen fliehen. Nach und nach verlor ich all meine Freunde. Meine neu gefundene Leidenschaft zum Reden wollte keiner mit mir teilen und so sprach ich mit mir selbst. Ich redete mir ein, dass ich auch alleine gut zurechtkam, doch das stimmte nicht. Der Mensch ist dazu bestimmt, in Gemeinschaft zu leben. Ich wünschte mir, ich hätte engere Freundschaften aufgebaut, als meine Stimme für die anderen noch schön klang, damit sie an meiner Seite geblieben wären. Denn sie hatten sich an mir gelabt, wie Aasvögel an einem Kadaver und als nur noch Knochen übrig waren, sind sie weitergezogen. Ich habe oft zu Gott gebetet, dass er mir ein drittes Wunder schenken möge oder sein zweites ungeschehen machte, aber keins von beiden geschah. Seit vierzig Jahren bete ich. Vielleicht erhört er mich noch.
© Benjamin Hebrang 2023-07-26