von Ulrike Sammer
Meine Schwiegertochter kommt aus dem Bereich um Frankfurt, genau genommen aus Friedrichsdorf. Vor Jahren wurde ich einmal eingeladen um die Familie und das malerische Städtchen kennenzulernen. Ich wohnte in einem alten Fachwerkhäuschen der Hugenottensiedlung (aus 1685) mit halsbrecherisch steilen Stiegen. Nach vorne ging es in einen mittelalterlichen Hof und hinten gab es nur einen Streifen Wiese und eine Mauer. Sie diente als Sichtschutz zum Nachbargrundstück. Aber weit oben konnte ich durch ein kleines Fenster hinübersehen. Dort gab es eine weitläufige Wiesenlandschaft und ein sonderbares modernes Haus. Über die Wiese spazierten immer wieder Zweiergruppen, die offenbar diskutierten. Was war da bloß? Ich entschlüsselte es.
Der „Frankfurt-Tempel“ in Friedrichsdorf ist der erste Tempel der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“, der „Mormonen“ in der Bundesrepublik Deutschland vor 1990, der zweite auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland nach 1990 und der einundvierzigste Tempel weltweit. Nach den Tempeln in Bern (Schweiz) und in Freiberg (Sachsen) war er der dritte, der im deutschsprachigen Raum errichtet wurde. Er wurde am 28. August 1987 durch den damaligen Präsidenten der Glaubensgemeinschaft, Ezra Taft Benson geweiht. Der Tempel wurde auf dem ca. 21.000 m² großen Gelände einer 1982 stillgelegten Nudelfabrik errichtet. Das Gebäude ist 28 m breit, 98 m lang und (ohne Turm) 7 m hoch.
Der Tempeldistrikt umfasst die alten Bundesländer Deutschlands mit Ausnahme Baden-Württembergs, Österreich mit Ausnahme von Vorarlberg, die nördliche Hälfte Frankreichs, Slowenien, Kroatien, Afghanistan und die Länder Arabiens. Wegen des großen Einzugsgebietes bleiben Tempelbesucher üblicherweise mehrere Tage. Für sie wurde am Tempelplatz eine Herberge mit einer Kapazität von ca. 120 Personen eingerichtet. Grundsätzlich wird aber ein Kirchenmitglied, das einen gültigen Tempelschein besitzt, in jeden Tempel der Welt eingelassen.
Die Kirche Jesu Christi lehrt, dass der Mensch nach dem Tod in unterschiedliche Reiche der Herrlichkeit gelangen kann: Das unterste Himmelreich sei das telestiale, das mittlere das terrestiale und das höchste das celestiale Reich – in dieser Reihenfolge von Sternen, Mond und Sonne symbolisiert. Diese Symbole wurden beim Bau in den Vorplatz des Tempeleingangs integriert: Am Fuß des Turms befindet sich eine Sonne im Boden, der Steinbogen an der Eingangstür steht für den Mond und die Sterne werden von zwei Oberlichtern des unterirdischen Durchgangs dargestellt, der von der gegenüberliegenden Rezeption in den Tempel führt. Das Buntglasfenster über der Eingangstür zeigt den Baum des Lebens, den Gott im Garten von Eden pflanzte. Im Buch „Mormon“ wird dieser Baum mehrfach erwähnt und soll die Liebe Gottes repräsentieren.
© Ulrike Sammer 2024-08-06