Bereits während meiner Tätigkeit im Herzen von Wien am Stephansplatz habe ich lange Zeit und mit besonderer Freude die Sendereihe „Menschenbilder“ gehört. Diese Geschichte hat mir der sehr bekannte Pater Joop Roeland OSA, er war ein in Wien lebender niederländischer Seelsorger (Rektor der Ruprechtskirche) und Schriftsteller, in einem kleinen Kaffeehaus in der Rotenturmstraße erzählt: Eine Prinzessin sollte zum Nutzen und zur Vergrößerung des Königreichs einen Prinzen heiraten. Sie liebte aber einen einfachen Burschen, den sie gegen den Willen des Königs auch heiratete. Das Paar wurde verbannt und musste in unwegsamer Gegend eine Herberge führen, in der jeder, der dorthin kam, Speis und Trank und ein Bett für die Nacht bekommen musste, wenn er darum bat. Und – sie durften dafür kein Geld verlangen.
Wenn wir schon kein Geld verlangen dürfen, dachten die Prinzessin und ihr Gemahl, so bedingen wir uns als Lohn aus, dass jeder, der bei uns einkehrt, seine Lebensgeschichte erzählen muss. Und bald hieß die Herberge“Zum erzählten Leben“ und war bekannt bei reichen Kaufleuten genauso wie bei armen Landstreichern. So durfte ich es vom Pater hören und einige Tage später im ORF. Ich wurde auch aufmerksam gemacht, es handle sich nicht um einen Kreis gelangweilter Leute, sondern um einander fremde Menschen, die durch ihre Lebensgeschichte einander vertraut werden in der Herberge. So ergibt sich für mich die Erkenntnis, dass Aus-dem-Leben-Erzählen heilsam sein kann.
Der Sinn dieses Märchens für mich: Wer dem Ruf seines Herzens folgt, macht keine große Karriere, kann nicht Königin werden. Aber es wird ihm dafür etwas anderes geschenkt. Er kann einen Ort bieten, wo Menschen ihre Lebensgeschichte erzählen können. Einen Ort, wo Liebe, Ehrfurcht und Wertschätzung zu Hause sind. Gesinnung, die anerkennt und sein lassen will. Diese Betrachtung der Vergangenheit erhellt einfach die Wahrheit über die Gegenwart. Ein Sinn, der bisher im Fluss des Lebens verborgen war, taucht an der Oberfläche auf, ein Sinn, der in Glückstagen gereift und in Krisentagen geläutert worden ist. Diesen Sinn zu erkennen, dazu hilft ein aufmerksames Gegenüber, vielleicht mit der einen oder anderen leisen Frage, die dieses Gegenüber stellen könnte. Psychologen haben dafür den Begriff des „aktiven Zuhörens“ gefunden. Religiös von Pater Joop gedeutet ist in allen Lebensgeschichten eine Geschichte mit dem Göttlichen verwoben, der den Menschen versprochen hat: Ich bin bei dir.
Die Herbergen zum erzählten Leben sind für mich die Orte, wo Menschen ihre Geschichten erzählen können. Wo ich so sein darf, wie ich wirklich bin.
© Hermann Exenberger 2024-06-14