von Nick_O
Auf Malta war Tony unser Tourguide. Mit seinem Kleinbus sammelte er Gäste in den Hotels seines Heimatortes ein und zeigte ihnen bekannte Plätze der Insel. Eines Nachmittags brachte er uns gemeinsam mit einer sympathischen englischen Familie nach Gozo zum Red Beach. Unweit vom Strand ließ uns Tony auf einem felsigen Hügel aussteigen. Wir sollten das letzte Stück zu Fuß gehen und uns auf dem Weg eine Höhle in der Nähe ansehen.
In brennender Hitze stapften wir die leicht abschüssige, schmale Straße bis zu der Höhle hinunter. Eine Telefonleitung, unter der wir durchgingen, gab in der prallen Sonne ein mysteriöses Surren von sich. Vielleicht waren es auch nur die Grillen, die unweit der Höhle ihr Lied sangen. »Diese Leitung«, dachte ich, »führt überall hin, in die größte Stadt, in das kleinste Dorf. Du brauchst nur den Hörer abzuheben und kannst jeden erreichen.« Wir erreichten die Höhle, an der schon einige Touristen warteten, und empfingen alsbald den gut gelaunten, maltesischen Höhlenkundigen, der uns führen wollte.
Kurz nach dem Eingang hielt er uns an, um uns auf ein Phänomen vorzubereiten, das wir gleich hinter der ersten Felswand würden bestaunen können. Er erkundigte sich kurz nach der Herkunft aller Gäste.
»Böse Schwiegermutter«, sagte er dann in sechs oder sieben verschiedenen Sprachen.
Drei Schritte später sahen wir in einer Wand eine von der Natur geformte, gebückte Steinfigur, die uns abfällige Blicke zuzuwerfen schien. Eine Art Hexe, deren hämisches Lachen in Stein gemeißelt war. Lautes Gelächter schallte durch die Höhle. Wir kamen aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt, aber jeder reagierte mit einem Lachen. Wir amüsierten uns köstlich über die böse Schwiegermutter, die auf fast mythische Weise verbindend zwischen den Nationen wirkte.
Unser schmächtiger Höhlenführer wartete sichtlich zufrieden die Reaktion ab, die er schon unzählige Male gesehen und gehört haben musste.
In der Höhle gab es sonst eigentlich nichts mehr zu bestaunen, weshalb man auf den Gedanken kommen konnte, dass die steinerne Schwiegermutter vielleicht doch keine so natürliche Form war, wie man uns weisgemacht hatte.
Am Red Beach verbrachten wir einen entspannten Tag mit Wind, Wellen und einem kühlen Getränk im Schatten. Wir saßen beisammen und tauschten uns aus, als würden wir uns ewig kennen. Alles war sehr vertraut, das Fremde nicht mehr fremd. An manchen Tagen ist es überall gut. An manchen Tagen schlägt das Morgen keinen großen Bogen.
An manchen Tagen trifft sich die halbe Welt in einer unscheinbaren Höhle, um sich in einem gemeinschaftlichen Gefühl, das sich wenigstens für einen Augenblick ausbreitet, über eine auf ewig an ihren Ort verbannte Schwiegermutter aus Stein zu amüsieren.
© Nick_O 2019-04-18