Die hohe Literatur

Ulrike Sammer

von Ulrike Sammer

Story

Es schon einige Jahre her, als mein Mann und ich Urlaub in Zypern machten.

In dem Hotel, das hauptsächlich von Engländern und Deutschen heimgesucht wurde, hat sich eine eigenartige Tauschbörse entwickelt. Neben dem Lift, der die Gäste hinunter zum Strand oder zum Restaurant beförderte, stand ein Glastischchen, das täglich mehrmals wechselnd mit verschiedenartiger Lektüre bestückt wurde. Irgendwer musste einmal begonnen haben, vor seiner Abreise sein Gepäck zu erleichtern, indem er die ausgelesenen Journale und Wochenmagazine auf das Tischchen legte. Sehr bald entwickelte sich ein reger Wechsel: was eben noch dort lag, fand bereits einen Interessenten, während ganz andere, von mir noch nie vorher gesehene Blätter das Tischchen zierten. Bald kamen Taschenbücher dazu und fanden jeweils sehr schnell neue Besitzer. Die Frauenzeitschriften wurden allerdings von Mal zu Mal dünner, da bestimmte Artikel über anti-aging, Kochrezepte oder psychologische Eheverbesserungs-Ratgeber mit einem schnellen Riss entfernt wurden. Ich malte mir manchmal aus, wie ich hinter der Ecke auf der Lauer liegend beobachten könnte, wie ein von mir ausgelegter Köder, der das Titelblatt eines Softpornos aufwies, die Urlauber, aber auch die Reinigungskräfte reagieren lassen würde. Vermutlich könnte man aus den Reaktionsmustern fast eine wissenschaftliche Studie machen: Welche Einflüsse lassen die “Probanden” interessiert durchblättern, verschämt wegschauen oder gar ein anderes Heft schnell darüber gleiten lassen, um es den Blicken der Nachkommenden zu entziehen. Wie mögen Männer oder Frauen reagieren, wie Eltern in Begleitung ihrer Kinder? Getrauten sich nur Singles das Buch in ihr Zimmer zu tragen oder auch langjährig verheiratete Paare? Würde man es schnell unter einem mitgebrachten Strandtuch verstecken oder offen wie eine Trophäe wegschaffen? Leider werde ich es nie erfahren.

Aber einer Frage konnte ich nachgehen: Hat sich der Brauch der Tauschbörse nur im dritten Stock eingeführt oder ist er eine Spezialität des ganzen Hauses? Also schlich ich über die Feuertreppe in den zweiten Stock hinunter und erspähte auf dem besagten Glastischchen gähnende Leere. Die größte Überraschung erwartete mich aber im ersten Stock: Neben dem Lift lagen zwei idente antiquarische Ausgaben von Dostojewskis „Schuld und Sühne“. Meine Fantasie begann zu rotieren. Mistet hier ein deutscher Buchhändler sein Regal aus und bringt jedes Jahr zur Urlaubszeit ein paar seiner unverkäuflichen Exemplare mit? Versucht eine Oberstudienrätin das Niveau der Hotelgäste zu heben? Hatten ältliche Zwillinge zu gleicher Zeit ein Bedürfnis nach hoher Literatur, das nun aber gestillt ist? Fragen über Fragen…

© Ulrike Sammer 2021-05-19

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