von Annemarie Hülber
Gustl, der Dackel-Schnauzer-Mischling, patrouilliert am hinteren Gartenzaun. Der Zaun ist mit einer Schilfmatte blickdicht abgedeckt. Auf der anderen Seite des Zaunes raschelt und scharrt und flattert es. Vor allem gackert es. Gustl kann nicht sehen, was hinterm Zaun ist. Aber er riecht und hört es. Und es ist okay für ihn. Auf seiner Seite des Zaunes ist ja alles in schönster Ordnung.
Vor einiger Zeit hat mein Nachbar begonnen, direkt an unserem Gartenzaun zu bauen. Man konnte erkennen, dass es ein kleines Haus oder eine Hütte werden sollte. Ein Geräteschuppen dachte ich. Da ich neugierig bin, habe ich nachgefragt. Das wird ein Hühnerstall, hat er freudestrahlend erklärt. Hühner sind problemlos, es wird auch keinen Hahn geben und er montiert einen Sichtschutz am Zaun, damit Hund und Hühner, mitten im Wohngebiet, eine friedvolle Nachbarschaft haben. Für uns gibt es dann sonntags immer ein Frühstücksei. Das Frühstücksei hat mich überzeugt. Außerdem bin ich naturverbunden und ein Hühnerstall ist kein Raubtierkäfig. Ich habe so weit kein Problem mit den neuen Anwohnern.
Ein paar Monate später, es ist ein sonniger Herbsttag, gibt es plötzlich Rabatz im Garten. Der Dackel-Schnauzer ist aus dem Häuschen. Ich vermute, er hat einen Einbrecher gestellt. Der vermeintliche Einbrecher sitzt im Hochbeet. Es ist eine rotbraune Henne, die laut gackert. Reiselustig hat sie ausprobiert, ob sie fliegen kann und hat den Gartenzaun überwunden. Mein kleiner Revierverteidiger ist not amused aber mit ein paar Leckerlis lässt er sich überreden, sich in sein Körbchen zurückzuziehen.
Ich starte die Aktion ‘Rücksiedlung der Henne’. Mit freundlichem husch, schtscht versuche ich, das Tier Richtung heimatlichen Hühnerstall zu scheuchen. Das Huhn schlägt einen rechten Haken, flattert heftig mit den Flügeln und rettet sich über den Gartenzaun. Leider über den falschen. Jetzt ist das arme Vieh im Garten der anderen Nachbarin. Na super! Dort steht die Terrassentüre offen, welche auch zielsicher von der Henne angesteuert wird.
Überraschte Schreie aus dem Nachbarhaus. Die Henne stürmt im Laufschrift in den Garten, meine Nachbarin hinterher. Das Huhn kommt zur Erkenntnis, dass es bei mir gemütlicher war und wechselt wieder die Gartenzaunseite. Das Mitleid meiner Nachbarin ist mir sicher, aber sie hat doch einen erleichterten Gesichtsausdruck. Wir beraten, wie man ein Huhn fängt. Das Tierchen ist viel schneller als ich. Aber ich bin schlauer. Ich hole eine Decke und versuche, diese über das fliehende Huhn zu werfen. Die Nachbarin gibt Ratschläge. Und wirklich, bereits der vierte Versuch glückt. Vorsichtig packe ich Decke und Huhn und werfe den Vogel zurück zu den Seinen. Rücksiedlung erfolgreich abgeschlossen.
Der ganzen Hühnerschar wurden dann die Flügel gestutzt. Seither sind wieder Ruhe und Frieden eingekehrt. Der Dackel-Schnauzer patrouilliert wieder zufrieden am Zaun entlang. Nur auf das sonntägliche Frühstücksei warte ich immer noch.
© Annemarie Hülber 2022-10-29