Die Inkubationszeit

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Sorglosigkeit ist nicht unbedingt ein Charakterzug, den man mir nachsagt. Früher vielleicht, als ich jung war, da hat mir eine gewisse Weitsicht gefehlt.

Seit über zwei Jahren bewege ich mich hauptsächlich im Freien, fast alle Kontakte habe ich ins Grüne verlegt. Ich meide Feste, bei denen eine unüberschaubare Anzahl von Menschen in Innenräumen zusammenkommt. Und gerade deshalb ist es mir ein Rätsel.

Ich lasse also die letzten Tage Revue passieren und gehe nach dem Ausschlussverfahren vor. Am Donnerstag kann es mit Sicherheit nicht passiert sein. Jeden Donnerstag wird um 10 Uhr die Kundalini-Energie aktiviert. Yoga im Park. Wir ziehen Mula Bandha und praktizieren den Kamelritt und reiten auf den Yoga-Matten, während uns Ashana einlullt mit „You are my breath, breathe in me“.

Donnerstagabend war ich im MuQua bei den O-Tönen, weil ich ein Fan von Daniela Strigl bin und mich interessiert, was sich tut in der Literaturszene. Ich saß beim Mittelgang, und auf dem Platz rechts von mir war mein Rucksack.

Am Freitagvormittag tätigte ich den Wochenendeinkauf. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich, obwohl die Maskenpflicht im Handel gefallen ist, trotzdem Maske trage.

Abends gab’s am Wienfluss ein Konzert, organisiert von den Grünen der angrenzenden Bezirke. Der im Flyer angekündigte Romc, der in echt Matthias Romstorfer heißt, entpuppte sich als unscheinbarer junger Mann, stimmlich nicht schlecht, aber die Worte „it’s so unfortunate that you’re oblivious to my pain“, schmerzten mich. Warum singt er nicht in seiner Muttersprache? Bei „back and forth“ entschied ich mich für „back“ und ging heim zum „Alten“. Wir sind ja quasi Kollegen. Ich ermittle jetzt auch und versuche herauszufinden, wo die virushaltigen Partikel auf mich zugeschwebt sein könnten.

Samstagnachmittag besuchte ich Hundertwassers „Regentag“, die in Tulln vor Anker liegt, und fuhr auf Umwegen und mit einigen Zwischenstopps wieder zurück nach Wien. In den Regionalzügen sind kaum Fahrgäste. Ansteckung unmöglich. Am Bahnhof Tullnerfeld war tote Hose, nichts als parkende Autos. Ich verspürte Hunger, betrat das leere Fastfood-Restaurant und bestellte eine Takeaway-Box. Mit alles, fragte mich der dunkelhäutige Typ mit sorgfältig getrimmtem Bart, worauf ich nickte und wiederholte, ja, mit alles.

Dann stieg ich in den nächsten IC. Da er rammelvoll war, blieb ich im Ausstiegsbereich und blickte bis Hütteldorf auf die Geschwindigkeitsanzeige. Affenzahn, 235 Sachen. Genauso schnell müssen die Tröpfchen gewesen sein. Denn ich spürte ein verdächtiges Kratzen im Hals. Da fiel mir der platinblonde junge Mann ein, der am Freitagnachmittag unweit von mir in der U6 saß. Zwar trennte uns der Mittelgang, doch mir entging nicht, dass er erstens keine Maske trug und zweitens von schrecklichen Hustenanfällen geplagt war und sich vor Krämpfen wand. Ich setzte mich dann weg.

Trotz der zusammengetragenen Indizien glaube ich, der Fall bleibt ungelöst.

© Sonja M. Winkler 2022-07-18

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