Das ganze Jahr haben wir sie gemieden. Nur kurz Einkäufe vorbeigebracht, natürlich mit Mundschutz und Abstand, und nach wenigen Minuten waren wir wieder weg. Seit März keine einzige Umarmung. Im Sommer waren wir 2-mal dort, aber auch da nur auf der Terrasse und mit genügend Abstand. Einerseits waren wir traurig über diese Situation, andererseits wollten wir sie mit aller Macht schützen. Sie ist Hochrisikopatientin. Eine Ansteckung wäre eine Katastrophe. Mein Job, in dem ich immer wieder, oft unwissentlich, Kontakt habe, ist in dieser Zeit auch nicht gerade hilfreich und fördert dieses Vermeidungsverhalten noch zusätzlich.
Nun rückte Weihnachten immer näher. Eigentlich unverantwortlich, mit ihr Weihnachten zu feiern. Andererseits: Wenn wir auch zu Weihnachten nicht kommen, würde sie emotional daran zerbrechen. Schon viele Wochen vorher überlegten wir fieberhaft. Ich kaufte 2 Antigentests in der Apotheke. Wir wollten wenige Stunden vorher den Test machen. Natürlich ist das keine 100 %ige Sicherheit, aber die gibt es nie. Die Abnahme des Abstrichs selbst ist kein Problem, mittlerweile bin ich darin geübt.
24.12., 14 Uhr. Ich bohre mit dem Staberl in der Nase meines Freundes. Er stellt fest, dass das bei mir deutlich unangenehmer war, als damals beim Massentest. Gut so. Er bohrt mir danach auch in der Nase. Er macht das gut, ich werde ihn als Freiwilligen bei den nächsten Massentests vorschlagen. Kurze Zeit später: Um 14.15 Uhr sind wir mit (??) 70 %iger Sicherheit negativ.
15 Uhr. Wir betreten die Wohnung umarmen sie zur Begrüßung. Die erste Umarmung seit so vielen Monaten. Man spürt, wie sehr sie sich darüber freut. Wie sehr sie diese Nähe vermisst hat. Wir verbringen den Heiligen Abend miteinander. Sitzen nebeneinander, umarmen uns nochmals bei der Geschenkübergabe. Dann, spät abends, als wir schon beinahe im Sitzen einschlafen, verabschieden wir uns. Wir wollten diese halbwegs sichere Zeit so viele Stunden wie möglich genießen. Sie begleitet uns in den Flur, wo wir unsere Schuhe anziehen. Zum Abschied nehme ich sie nochmals in die Arme. Wieder merkt man, wie sehr sie diese kleine Geste vermisst hat. Wie sehr es ihr gefehlt hat. Dann nimmt auch mein Freund sie noch einmal in den Arm. Sie lässt den Rollator los, hält sich mit beiden Armen an ihm fest. Ihr Kopf ruht an seinem Brustkorb, beide Arme umklammern ihn regelrecht. Mir scheint, als würde sie ihn nicht mehr loslassen wollen. Das tut sie auch nicht so schnell. Sie hält ihn fest, lehnt sich an ihm an. Sie genießt diese paar Sekunden der Nähe. Dieses Bild, dieser Moment, berührt mich ungemein. Diese innige Umarmung zwischen Mutter und Sohn. Die letzte Umarmung für viele weitere Wochen. So unglaublich schwierig, diese Zeit, für uns alle. Und wie schön, dass wir ihr wenigstens Weihnachten dieses Geschenk in Form einer Umarmung machen konnten.
Foto: Unsplash, Christina Rivers
© Melly Schaffenrath 2020-12-31