Die Insel

Lisa Schmidt

von Lisa Schmidt

Story

Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, waren bereits die Hälfte aller Menschen im gebärfähigen Alter unfruchtbar. Zu spät hatte sich bestätigt, was viele schon vermuteten: Pestizide waren dafür verantwortlich. Noch heute, dreißig Jahre später, sind unsere Nahrungsmittel belastet, der Boden kaum regeneriert. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis das erste saubere Gemüse geerntet werden kann.

Mittlerweile, so sagen sie, gelten 98 Prozent aller Menschen als zeugungsunfähig – und es werden mehr. Die Chance, dass zwei fruchtbare Individuen zufällig aufeinandertreffen, sich verlieben und ein Baby bekommen, geht gegen null. Deshalb gibt es die Inseln. Orte, an denen man sich begegnen kann, verlieben, zueinander finden und Kinder kriegen. Ich dachte, es wäre schön dort, ein Hoffnungsstreifen in dieser tristen Welt. Doch es kam anders.

Kurz nach meinen 16. Geburtstag erhielt ich die Aufforderung zur Selektionsuntersuchung. Danach ging alles ganz schnell. Man teilte mir mit, dass ich fruchtbar wäre. Ich konnte es kaum glauben, auch wenn ich die Hoffnung nie wirklich aufgegeben hatte, so war sie doch immer nur als schwaches Leuchten zu sehen gewesen. In diesem Moment wurde ein Feuer daraus. Ich erinnere mich, wie wir gefeiert haben. Alle haben sich für mich gefreut, in meinem Bauch flogen tausend Schmetterlinge und meine Mama war so glücklich, dass sie den ganzen Abend weinte.

Dann kam die Einladung, ich sollte auf die Inseln. Das erste Mal würde ich mein Zuhause verlassen, allein und auf mich gestellt sein, mit der idyllischen Hoffnung, den Mann meiner Träume zu finden und eine Familie zu gründen – wunderschöne Kinder, mit blonden Locken, so wie meine. Ich war so aufgeregt. Ich stellte es mir vor, wie in den Prospekten und Werbespots. Eine grüne Oase im blauen Ozean, kleine weiße Häuser, geselliges Treiben und immer Sonnenschein. Fröhliche Familien und lachende Kinder. Aber das war es nicht. Die Bilder, die man uns einpflanzte, waren trügerisch und falsch.

Die Wände sind grau und farblos. Ich teile das Bett mit einem Mann, den ich kaum kenne, den ich nicht ausstehen kann. Alles, was sie uns erzählten, war gelogen. Frauen sind Brutstätten. Man bekommt einem Mann zugewiesen, der einen schwängert – irgendwann. Anschließend kommt man in Bereich B und sieht zum ersten Mal die anderen Frauen, ausgezehrte Körper mit runden Bäuchen, kurz vorm Platzen. So viele davon.

Sobald das Baby da ist, reißen sie es dir aus den Armen. Man hat nur diese eine Minute, die Schönste und Schlimmste zugleich. Das Baby darf die Insel verlassen, bekommt eine Familie, nicht deine. Ich habe ihnen allen Namen gegeben: Alba, Betty, Cyrill, Dan, Elis, Fiona, Gloria, Hugh, Ida und Jimmy. Dieses Baby wird keinen Namen bekommen. Dieses Mal nicht. Die Scherbe in meiner Hand ist scharf, bereit, all das zu beenden.

© Lisa Schmidt 2022-08-30

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