Die Insel Holbox (2)

Story
1982

Ich habe ein Zimmer fĂŒr einen US-Dollar pro Nacht bei Fischern gemietet. Das Zimmer hat eine unverglaste, mit Eisenstreben reich verzierte HaustĂŒre, die man nicht abschließen kann, und einen Hintereingang ohne TĂŒre. Möbel gibt es keine. Lediglich zwei Haken an den WĂ€nden, um eine HĂ€ngematte aufzuhĂ€ngen. Hinten im Garten befindet sich ein frisch gemauertes Klo-HĂ€uschen mit Waschbecken ohne Dach. Diese neue, moderne Errungenschaft ist der ganze Stolz der Familie und wird von uns allen benutzt. Allerdings funktioniert das Klo meistens nicht und ist auch nicht dafĂŒr konzipiert, Toilettenpapier zu verschlingen.

Es hat sich schnell im Dorf herumgesprochen, dass eine Weiße aus Deutschland angekommen ist. Eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren und blauen Augen. Husky-Augen. Das ist exotisch. Das haben sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Hier haben sie alle dunkle Augen und orange farbige Haare. Das kommt von der vielen Sonne, die fĂ€rbt die pechschwarzen Haare orange. Ein ganz natĂŒrlicher, photosynthetischer Prozess.

Am zweiten Abend nach meiner Ankunft zĂŒnde ich ein paar Kerzen an und lege mich in die HĂ€ngematte. Ich habe den ganzen Tag mit stundenlangen SpaziergĂ€ngen am karibischen Meer verbracht und die Insel erkundet. Ich bin hundemĂŒde und unbeschreiblich glĂŒcklich. Ich zĂŒnde mir eine Zigarette an, stoße den Rauch aus und starre auf das Eisentor ohne Glas. Das halbe mĂ€nnliche Geschlecht der Dorffischer hat sich vor dem Tor versammelt. Jung und alt. Sie starren mich an. Sie bewegen sich nicht. Sie sagen nichts. Keine Mimik. Keine Gestik. Nichts. Es ist beunruhigend still. Ich ĂŒberlege, ob ich der Affe im Zoo bin, oder ob sie die Affen sind. Ich bekomme einen Lachkrampf. Ich lache bis das Zwerchfell weh tut. Ich krĂŒmme mich in der HĂ€ngematte. Ich habe die Kontrolle verloren.

Plötzlich fĂ€ngt einer der MĂ€nner auch an zu lachen. Und dann lachen sie alle und wir lachen gemeinsam und halten uns die BĂ€uche. Irgendwann wird es ruhiger. Die MĂ€nnerversammlung löst sich friedvoll auf. Sie gehen zu ihren Frauen nach Hause. Jetzt wissen sie, wer die Weiße mit den blauen Augen ist und haben mich wohlwollend im Dorf aufgenommen. In den nĂ€chsten Tagen bringen sie mir Geschenke. Blaue Husky-Augen. Die Augen einer Göttin. Ich bin unantastbar. Ich bin beschĂŒtzt und sicher.

© 2022-01-10

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