von Stefan Feinig
Irgendetwas in mir wusste und hat schon immer gewusst, dass ich niemals Liebe kennenlernen werde, die gegenseitige, bedingungslose und erwiderte Liebe, in der unser anerzogener Individualismus sich auflöst, sich die Lebensbedingungen schlagartig verändern und das Weiterleben plötzlich gerechtfertigt erscheint. Ich bin nicht naiv. Ich weiß nur allzu gut, dass die meisten Menschen auf die Welt kommen, älter werden und sterben, ohne diese Liebe je kennenzulernen. Und schlussendlich werde auch ich einer dieser vielen Menschen sein.
Vor dem U-Bahneingang drängt mich eine ältere Frau rüde zur Seite und wirft mir einen Blick zu, als wäre ich das Arschloch.
Sie ist eine Vorhaut, denke ich mir. Genauso, wie dieser stramm-stehende Business Kerl im Anzug, der citizen dildo vom Dienst, eine Vorhaut ist. Jeder in dieser U-Bahn, in dieser miesen kleinen Großstadt ist eine Vorhaut. Die ganze Gesellschaft ist eine gottverdammte Invasion von Vorhäuten. Und jeder dieser Dödel marschiert mit einer undurchdringlichen Schutzschicht durch die Welt, verbissen und egozentrisch, als gäbe es außerhalb seiner nichts Wahrhaftiges mehr zu entdecken.
Es gibt keine Inhalte mehr, stelle ich wieder fest, als einem vorbeilaufenden Kind das Softeis aus dem Stanitzel fällt. Die Leere dieser Waffel schafft es mich mit ihrer Fatalität geradezu verheißungsvoll zu blenden, ehe ich auf einer Bananenschale ausrutsche und slapstickhaft hinfalle, wie der Bösewicht in einer dieser stupiden Kindercomedys. Dabei bin ich doch der Gute hier, ärgere ich mich kurz vor dem Aufprall, auf dem unnachgiebig harten Beton. Eine weitere Vorhaut, dämmert es mir. Als ich die Augen öffne, befinde ich mich mitten im Nichts. Die Luft ist lau und ich würde gerne zu irgendeiner Schlussfolgerung gekommen.
© Stefan Feinig 2021-07-05