Die Kaktus-Theorie

Mara Paulhardt

von Mara Paulhardt

Story


Dieses Kapitel ist für alle Angehörigen, die Betroffene mit Depressionen oder anderen mentalen Krankheiten kennen, und mit ihren verzweifelten Versuchen, ihnen zu helfen, bis jetzt nur gescheitert sind.

Ich nenne sie die „Kaktus-Theorie“. Sie zeigt, wie sehr die äußere Erscheinung eines Menschen von seinem Innenleben abweichen kann, und warum man deshalb keine Rückschlüsse von der oberflächlichen Abbildung einer Person auf ihre mentale Intaktheit schließen sollte. Was das mit einem Kaktus zu tun hat? Nun, von außen wirkt er mit seinen Stacheln harsch, tough und unnahbar, innen jedoch ist er sehr weich, zart und leicht verletzbar. Und so verhalten sich auch mentale Krankheiten. Sie legen sich wie eine Art „Kaktusmantel“ um den Erkrankten. Man kann lachen, sich mit Freunden treffen, sich in schicke Klamotten werfen und trotzdem tief depressiv sein. Denn nicht umsonst heißt es mentale Krankheit. Man hat also keinen Gips um den Arm, Krücken, oder ein Label an der Stirn, auf welchem steht: „Ich bin depressiv“. Wenn eine Person also von außen glücklich scheint, heißt es nicht gleich, dass sie es auch ist. Das Lächeln kann genauso gut eine Fata Morgana, wie das Wasser in der Wüste sein. Bitte stellt deswegen lieber keine Aussagen, wie: „Du siehst so glücklich aus. Es freut mich, dass es dir besser geht!“ Oder noch schlimmer, wie es besonders häufig bei Essstörungen gemacht wird: „ Oha, da hat aber jemand ab-/zu-genommen!“ Fragt stattdessen. Stellt eine Frage, die simpler und banaler nicht hätte sein können. Fragt: „Wie geht es dir?“ Dann kann die Person selbst entscheiden, wie viel sie dir in dem Moment mitteilen möchte. Das kann ganz vieles sein, oder auch gar nichts. Denn manchmal ist die äußere Fassade, wie es beim Kaktus die Stacheln sind, reiner Selbstschutz, den wir uns über die Zeit angelegt haben. Uns fällt es schwer, diesen vor anderen Personen abzulegen. Wenn ihr aber nun anstelle von Aussagen Fragen stellt, hat die Person die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, was sie im Moment bereit ist, dir mitzuteilen. Und noch viel wichtiger ist: Mit der Frage zeigt ihr, dass ihr sie seht. Sich um sie kümmert, und es euch wichtig ist, ob es ihr gut geht. Das heilt die Depression zwar nicht, kann den Leidensdruck der Person jedoch zumindest etwas lindern.


© Mara Paulhardt 2023-08-11

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