Die Kathedrale

Selina Castel

von Selina Castel

Story


Bruder Antoine stieg die engen Treppen zu den Dachbalken der Kathedrale hinauf. Es war ein kalter Tag und der Wind pfiff durch die Steinmauern. Ein paar Tauben scheuchten auf und wirbelten Staub und Federn durch die Luft. Der Fremde stand bereits hier und blickte mit unlesbarer Miene hinunter zu den Betenden. Warum kam er immer wieder hierher zurück? Seit Antoine ihn zum ersten Mal erspäht hatte, hatte er schlaflose Nächte damit verbracht sich auszumalen, was in dem Kopf des nachdenklichen Mannes vorging. „Du bist öfters hier als der Erzbischof“, sagte Antoine. Der Fremde hob seinen Kopf langsam an. „Dein Bischof ist zu beschäftigt genug Tätigkeiten für all die Goldmünzen zu finden.“ „Wie heißt du?“, fragte Antoine. Er musste wenigstens seinen Namen kennen. „Noir.“ Antoine hatte so viele Fragen an diesen mysteriösen jungen Mann. Seine weiße Haut bildete den perfekten Kontrast zu seinem pechschwarzen Haar. Seine Marmorhaut war makellos. Seine Lippen teilten sich sinnlich und ließen Antoines Herz höherschlagen. Noir musterte ihn. Jetzt sah Antoine zum ersten Mal die Augen des Mannes. Tiefschwarz, gesprenkelt mit Sternen. Möge Gott ihm die sündigenden Gedanken vergeben! „Was siehst du von hier oben?“, fragte Antoine mit trockener Kehle. Noir trat näher zum Geländer. „All die Menschen dort unten teilen sich das Gefühl dazuzugehören. Auch wenn ich nicht dazu gehöre, fühlt es sich hier weniger einsam an.“ „Die Kirche heißt jeden willkommen. Bete mit uns.“ Antoine flehte ihn beinahe an. Noir richtete sich auf und trat näher zu ihm. „Und an wen soll ich beten? An deinen jungen Schöpfer? An die kriegerischen Götter der Nordvölker? Oder an den alten Sonnengott der Pyramidenbauer?“ Seine Worte waren reine Blasphemie, doch Antoine sah in seinen Augen keinen Hass nur Einsamkeit. Irgendwo in seiner dunklen Vergangenheit hatte er Gott verloren. „Gott lässt keine seiner Schöpfungen allein, wenn du zu ihm sprichst, wird er dir zuhören.“ Noir blickte ihn nur ausdruckslos an. „Und was, wenn nicht? Was, wenn da niemand ist, der auf die Betenden da unten blickt?“ Antoine knetete seine kalten Hände. Testete Gott seinen Glauben? Er schluckte. All die eingeübten Antworten lagen vor ihm. Er musste sie nur aussprechen. Doch die Dunkelheit in den Augen des jungen Mannes vor ihm hatte schon gewonnen. Antoine hatte sein gesamtes Leben in der Brüderschaft verbracht und die Lehren Gottes in Büchern gelesen. Die schwarzen Augen des Mannes vor ihm hatten eine lange Reise hinter sich und was sie auch gesehen hatten, waren ihre Lehren gewesen. Antoine wollte von ihm lernen. Er wollte seine Geschichten hören. Selbst wenn er Gott dadurch verlieren würde. Bitte habe Erbarmen Allmächtiger! Noir spielte mit den Lichtstrahlen, die durch die Glasbuntfenster hineinfielen. „Ich muss gehen.“ Bevor Noir die Treppe erreichte, rief Antoine ihm hinterher: „Selbst wenn Gott heute nicht den Betenden zugehört hat, hast wenigstens du zu ihnen hinuntergeblickt.“ Was sagte er da nur? Noir schenkte ihm ein nachdenkliches Lächeln und ließ ihn allein in den Dachbalken der Kathedrale zurück. Ob er wieder hierherkommen würde? Antoine trat zu der Stelle, an der Noir zuvor gestanden hatte und starrte hinunter zu den Besuchern der Kirche.


© Selina Castel 2023-08-11

Genres
Romane & Erzählungen