Die KrÀhe und das Krankenhaus

Anatolie

von Anatolie

Story

Ich stand schon eine ganze Weile vor dem Eingang der Kapelle. Ich sollte ein bisschen rausgehen, um frische Luft zu schnappen, und das hatte ich auch bitter nötig. Mein Vater lag nach einer komplizierten OP auf der onkologischen Intensivstation, und nach ein paar Tagen hatte sich sein Zustand dramatisch verschlechtert.

Ich war noch nicht zwölf Jahre alt. Wir hatten FrĂŒhling, es war Ostern oder Mai. Überall duftete es betörend nach BlĂŒten und die Vögel sangen der frohen Jahreszeit ein Loblied. Eine halbe Stunde, hatte sie gesagt, dann sollte ich wieder hochkommen. Mama saß noch immer an seinem Bett, und ihre Augen flehten mich an, noch ein wenig draußen zu warten. Es war sonst niemand da, denn es gab in meinem engsten Familienkreis nur meinen Papa, meine Mama und mich.

Also beschloss ich, mir noch ein wenig die FĂŒĂŸe zu vertreten. Im angrenzenden Leechwald schlĂ€ngelte sich ein hĂŒbscher Spazierweg sanft ums GelĂ€nde hoch, und alle naselang hingen an den BĂ€umen BrutkĂ€sten, aus welchen es eifrig zwitscherte und piepste. „Kra kra kra!“, vernahm ich plötzlich ganz in meiner NĂ€he ein eindringliches KrĂ€chzen. Na sowas! Hinterm Baum hockte ein junges schwarzes Etwas, ein KrĂ€henkind. Ihm fehlten die langen Federn am Steiß. Nur widerwillig ließ es sich von mir einfangen. Und da es so allein war, mitten im GebĂŒsch, beschloss ich, es besser mitzunehmen.

Meine Mutter fiel aus allen Wolken, als ich am Krankenbett wieder auftauchte, mit dicker, heftig um sich schlenkernder Tasche, woraus ein verĂ€rgertes „Kra Kra Kra!“ ertönte! Sie hat sehr mit mir geschimpft und wies mich an, den Vogel sofort wieder dorthin zu bringen, wo ich ihn aufgelesen hatte. Aber keine Chance! Ich hielt standhaft an der Meinung fest, er sei aus seinem Nest gefallen und wir mĂŒssten uns jetzt um ihn kĂŒmmern! Da sie eh schon mit ihrer Kraft am Ende war, gab sie schließlich nach und die KrĂ€he durfte mit nach Hause.

Es wurde eine sehr aufregende Zeit, denn der kleine Geselle hielt ununterbrochen den Schnabel auf. Mama und ich gruben im Garten nach WĂŒrmern und Ameisenlarven, welche ihm besonders schmeckten. Bald absolvierte er seine ersten FlĂŒge, und ich gab ihm von ausgestreckter Hand aus Starthilfe. Leider fielen ihm nach und nach mehrere Schwungfedern aus, und das Starten fiel ihm zunehmend schwerer. Aber jeden Morgen, wenn eine von uns beiden vor die TĂŒr trat, begrĂŒĂŸte uns sein aufgewecktes „Kra Kra Kra“ und er kam auch schon ums HĂ€userdach geflattert.

Eines Tages war mein kleiner gefiederter Freund nicht mehr da. Des Nachts hatte ich ihn einige Male krĂ€chzen hören, es klang bedrohlich und alarmiert, ein untypisches Verhalten fĂŒr einen Tag-aktiven Vogel. Und plötzlich wars dann ruhig. Ich hoffte instĂ€ndig, dass ihm nichts passiert war, er nicht einem Raubtier zum Opfer gefallen ist.

Die kleine KrÀhe sahen wir nie wieder. Aber mein Vater hat sich wie durch ein Wunder nach dieser schweren OP wieder erholt, und dank intensiver Therapien durfte er noch ein paar Jahre bei uns sein.

© Anatolie 2022-03-12

Hashtags