Ich habe einen Mitbewohner, der immer die Türen offen lässt. Manchmal, wenn ich nach Hause komme, denke ich, es waren Einbrecher im Haus.
Die Küchentür offen, der fette Kater sitzt mitten im Schlachtfeld auf der Fensterbank und frisst das Basilikum, alle Schranktüren gähnen, der Kühlschrank ist auf.
Plötzlich schallt Lärm von nebenan, was mich beruhigt. Es ist nicht ausgeschlossen, aber ziemlich unwahrscheinlich, dass die Einbrecher in meinem Zimmer sitzen und Gitarre spielen. Außer die Musik hilft ihnen darüber hinweg, dass es bei mir nichts zu holen gibt.
Die Tür zu meinem Zimmer steht ebenfalls offen. Mein Mitbewohner sitzt auf meinem Bett und singt.
„Hallo, Schatz“, begrüßt er mich.
„Hi. Du hast schon wieder alle Türen aufgelassen.“
Ich bemühe mich, das ’schon wieder‘ richtig zu betonen. Ermüdung mit Empörung als Hauptnote, humorvoller Nebennote und einem Triller von Unruhe. Hinter mir im Flur steht der Kater und kotzt.
„Oh. Sorry.“ Mein Freund steigt elegant über den Kater und die Kotze, schließt die Küchentür und wirft sich zurück aufs Bett.
„Du hast nur die Küchentür zugemacht. Alle anderen Türen sind noch-“
Der Rest meines Satzes geht in Gitarrenmusik unter.
Das Faszinierende ist, dass mein Freund damit typisches menschliches Verhalten in einem Sinnbild zusammenfasst.
Als er einfach die Küchentür zumacht und alles dahinter ignoriert, denke ich mir: „Das kann nicht sein.“
Auf den zweiten Blick geht mir auf, dass fast jeder es so macht.
Wann immer uns jemand seine Sorgen erzählt und wir antworten „Du schaffst das schon“, machen wir die Küchentür zu. Wenn irgendwo etwas Schlimmes passiert und unsere einzige Solidarisierung darin besteht, unserem Facebook-Profilbild einen neuen Rahmen zu geben, machen wir die Tür zu. Wenn wir uns vor einem Veggie rechtfertigen mit: „Ich esse nur ganz selten Fleisch und achte total drauf, wo es herkommt“, schließen wir die Küchentür, im Hintergrund ein offener Kühlschrank, der UNGLAUBLICHE Mengen an Energie verheizt und ein kotzender Kater, auch wenn ich nicht weiß, wofür der in diesem Sinnbild steht. Wir machen die Tür zu, wenn wir einem Obdachlosen ein paar Cent geben und denken „Meine gute Tat für heute“. Wenn wir uns nicht mit unseren Mitmenschen aussprechen, weil wir uns für unsere Gefühle schämen. Wenn wir sagen ab nächster Woche fang ich an zu lernen, trink ich weniger, mach ich Sport, hör ich auf zu rauchen, besuch ich meine Familie öfter, suche ich mir einen Job, der mich nicht krank macht, behandle ich meine Mitmenschen besser, lern ich, mich selbst zu lieben.
Wenn wir die Küchentür zuhauen, vor anderer Leute Gesicht oder vor uns selbst, können wir unbesorgt unseren Angewohnheiten nachgehen, uns aufs Bett schmeißen und Gitarre spielen. Bis irgendwann einer unserer Mitbewohner die Küchentür öffnet und sich denkt: „What the fuck?!“
Oder bis wir die Stromnachzahlung sehen.
Wer eine Moral erwartet: Es kommt keine. Ich mache an dieser Stelle die Tür zu. Räumt alleine auf.
© Jane Steinbrecher 2021-06-19