von Emma Breuninger
Freitag vor dem ersten Advent. Höchste Zeit, einen Adventskranz zu kaufen. Ich fahre mit Boris, wie ich mein Auto, den “Caribe naranja” getauft habe, nach San Angel zum Blumenmarkt. Caribe – so nennt man in Mexiko die VW-Golfs der ersten Serie. Kein Parkplatz zu finden, also stelle ich Boris in zweiter Reihe neben die am Rand stehenden Autos direkt am Markt. Ein Verkäufer bietet mir einen Adventskranz an, ich lehne dankend ab, sause vier Stände weiter, entscheide mich für einen schönen Kranz, zahle, sause zurück. Mein Boris ist nicht mehr da.
“Die Grua (Abschleppwagen) hat ihn soeben aufgebockt. Dort vorne fährt er”. Und ja, da sehe ich Boris, Schnauze nach oben, davonfahren. Ich renne kopflos zwischen den fahrenden Autos hinterher. Ein hellblauer Mustang hält, die Tür geht auf: “Wir nehmen Sie mit, steigen Sie ein.” Mache ich. Wieviel man da an Schmiergeld zahlen sollte? Das nette Ehepaar hat keine Ahnung.
Die Ampel vorne an der Kreuzung ist rot. Abschleppwagen muss stehen bleiben. Zwischen uns sind fünf Autos. Die Ampel schaltet auf grün. Boris wird weitergeschleppt. Doch wundersamerweise fahren sie an den Straßenrand, halten, die Polizisten steigen aus, machen irgendetwas am Auto. Wir kommen angesaust, fahren vorbei, halten davor, ich verabschiede mich herzlich dankend und stürze zu den Polizisten: “Das ist mein Auto. Es tut mir leid, ich stand nur drei Minuten dort in zweiter Reihe.”
Die Polizisten bleiben stur: “ Wir haben soeben die Türen versiegelt. Jeder Siegel hat eine Nummer. Darüber müssen wir Rechenschaft ablegen. Es bleibt nichts anderes übrig, wir müssen das Auto abschleppen. Wir bringen es zum Depot in San Pedro de los Pinos”. Ich habe keine Ahnung, wo das ist. “Ich fahre mit ihnen mit, um dort gleich die Strafe zu bezahlen und das Auto wieder zu bekommen”.
Plötzlich hält ein Auto vor dem Abschleppwagen. Ein eleganter Mann in Anzug und Krawatte steigt aus und sagt zu den Polizisten: “Die Señora ist noch rechtzeitig gekommen und sie gibt zu, dass sie falsch geparkt hat. Also bitte hieven Sie das Auto wieder runter”.
Der ältere Polizist fragt indigniert: Wer sind Sie überhaupt? Der vornehme Herr überreicht seine Visitenkarte. Er ist “Licenciado”, also Rechtsanwalt und ist Direktor einer Firma. Er redet ständig auf den älteren Polizisten ein, während der andere im Wagen sitzt. Und er schafft es. Ich bekomme meinen Boris wieder und muss auch keine Strafe zahlen.
Ehe der Licenciado davonfährt, bitte auch ich ihn um eine Visitenkarte. Unter seinem Namen und seiner Position steht “El Arte de Persuadir”. Die Kunst des ….? Das Wort “persuadir” kenne ich nicht.
Ich fahre nach Hause, entferne die aufgeklebten Siegel und schaue oben in der Wohnung im Wörterbuch nach. Internet gab es ja noch nicht.
Persuadir bedeutet überzeugen, überreden.
Nun, dieser Licenciado beherrscht die Kunst des Überzeugens im wahrsten Sinne des Wortes. Da habe ich wieder einmal sehr viel Glück gehabt.
© Emma Breuninger 2021-12-23