Die langen Haare

Aulona Demolli

von Aulona Demolli

Story

Als Flüchtlingskind albanischer Eltern, die vor dem Balkankrieg aus dem Kosovo geflohen waren, bedauerte es die kleine Elona sehr, dass sie die Heimat ihrer Eltern nicht kannte. Sie bedauerte es, keine nostalgischen Erinnerungen mit den weit entfernten Großeltern schaffen zu können. Aufgrund des Flüchtlingsstatus, den die Eltern hatten, wurde der Familie über mehrere Jahre das Reisen ins Ausland nicht gestattet. Jahre vergingen und die kleine Elona besuchte mittlerweile schon die Schule. Sie beneidete ihre Klassenfreunde, die sie öfters sagen hörte: „Ich gehe heute nach der Schule zu meiner Oma“ oder „mein Opa holt mich heute von der Schule ab.“ Als sie elf Jahre alt wurde, freute sie sich, weil sie den Freunden in der Schule ganz stolz einen ähnlichen Satz sagen konnte: „Mein Onkel kommt morgen aus dem Kosovo zu uns zu Besuch!“ Der Onkel mütterlicherseits hatte es mit viel Mühe geschafft, ein Visum zu bekommen, und konnte zwei Wochen bei seiner Schwester verbringen. Seine kleine Nichte, die vor Freude kaum geschlafen hatte, kannte ihn nur von Bildern. Elona nutzte jede Gelegenheit aus, um mit ihm Zeit zu verbringen und sich mit ihm auszutauschen. Er erzählte ihr so viel von Pristina, und den Großeltern, die auf ihre kleine Nichte warteten. Der Onkel sah, wie seine Nichte von der Couch zur Kommode im Wohnzimmer eilte und sich mit einem Foto in der Hand wieder zu ihm auf die Couch setzte. „Onkel, du hast gar keine langen Haare mehr wie auf dem Bild“, bemerkte Elona verwundert. Ihr Onkel lachte auf und erzählte nostalgisch, dass das Bild in seiner Jugendzeit aufgenommen wurde, und, dass viele Männer damals lange Haare trugen. Ja, sogar Albin Kurti hatte damals lange Locken. Der Onkel erzählte ihr, wie er einmal mit einem Schulfreund unterwegs gewesen ist, und von einem serbischen Milizsoldaten angehalten wurde. Damals konnte man jederzeit auf der Straße von der Miliz angehalten und kontrolliert werden. Man musste seinen Ausweis immer mitführen, aber genau an dem Tag hatte er seinen vergessen. Mit seinem sehr schlechten Serbisch hatte er versucht zu erklären, dass er seinen Ausweis leider nicht dabei habe. Der Soldat zog ihn sofort aggressiv an seinen Haaren und der Schulfreund versuchte ihn auf Serbisch zu besänftigen, indem er ihm aufrichtig versicherte, dass er seinen Ausweis nicht mehr vergessen werde. Der Milizsoldat lockerte langsam seinen Griff und löste schließlich seine Hand ganz von den langen Haaren des Jungen. „Nimm dir ein Beispiel an deinem Freund, wie gut er Serbisch spricht, du musst auch die Sprache beherrschen!“, schrie ihn der Soldat an und ließ die Jungen weitergehen. „Ich habe in der Schule kaum aufgepasst, deswegen konnte ich auch die Sprache nicht“, erzählte der Onkel schmunzelnd seiner neugierigen Nichte. „Wie dem auch sei, habe ich seitdem aus Stolz meine Haare nie wieder mehr lang wachsen lassen. Ich wollte ihnen nicht mehr die Möglichkeit gewähren, an meinen Haaren zu ziehen. Dem Albin Kurti haben die Serben auch seine langen Locken abrasiert, als er in Belgrad in Haft war. Er hat seitdem auch nie wieder seine Haare wachsen lassen.“




© Aulona Demolli 2024-05-19

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Reflektierend