FLORENTINE
Florentine stand still vor dem alten Haus ihrer Oma und betrachtete es mit einer Mischung aus Nostalgie und Melancholie. Die Fenster, die einst von liebevollen Händen geputzt wurden, waren jetzt grau und staubig. Die kleine, verwunschene Gartentür, die immer einladend war, lag jetzt fast vergessen im Schatten der verwilderten Sträucher. Doch für Florentine hatte dieser Ort eine besondere Bedeutung – hier, in dieser Stille, begann ihre Geschichte, ihre Vergangenheit, und irgendwie fühlte sie sich immer noch mit ihm verbunden.
Ihre Gedanken drifteten ab. Was wäre, wenn Friedrich sich nie von ihr getrennt hätte? Würden sie heute noch zusammen sein? Sie spürte eine kleine Regung der Sehnsucht nach der Vorstellung, dass alles anders gekommen wäre. Ein Leben ohne den Unfall, ohne den Schmerz, ohne den Verlust. Ein Leben, in dem sie und Friedrich Hand in Hand alt geworden wären, ohne all die Missverständnisse, die Wunden und die zerbrochenen Träume.
Aber gleichzeitig wusste Florentine, dass sie diese Vorstellung nur aus einem Bedürfnis nach Trost erschuf. Ihre Ehe war nie einfach gewesen. Zu viele unausgesprochene Worte, zu viele unerfüllte Erwartungen. Friedrich hatte ihr nie wirklich zugehört, und sie hatte nie die Worte gefunden, ihm zu sagen, was in ihrem Inneren vorging. Die vielen Streitereien, die Momente der Entfremdung – all das war ebenso Teil ihrer Geschichte. Die Trennung war eine Erlösung und gleichzeitig ein Verrat an dem, was sie sich von ihm gewünscht hatte.
Zwei Jahrzehnten des Kampfes um Liebe und Anerkennung, und doch war es nie genug. Ihre Unsicherheit hatte sie immer wieder an sich selbst zweifeln lassen, sie immer wieder zurückgehalten, auch dann, wenn sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Und heute, nach all den Jahren, fragte sie sich: Hätte Friedrich sie wirklich verstanden, wenn sie es ihm anders hätte erklären können? Wäre ihr Leben dann anders verlaufen? Oder war das alles nur eine Illusion, eine perfekte Vorstellung einer unperfekten Beziehung?
Als sie auf das Haus ihrer Oma blickte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie nie wirklich wusste, wie es gewesen wäre, ohne all diese ungelösten Fragen und gelebten Konflikte. Der Gedanke, dass der Unfall und die Trennung ihr Leben auf den Kopf gestellt hatten, und dass sie jetzt vor diesem Haus stand, um ihre eigene Bestimmung zu hinterfragen, ließ sie nachdenklich werden. Wäre sie wirklich hier, an diesem Ort, wenn sie und Friedrich zusammen geblieben wären? Hätte sie diesen Moment der Reflexion jemals erlebt, wenn das Leben anders verlaufen wäre?
Die Antwort blieb vage, wie die Dämmerung, die sich langsam über die Straßen senkte. Florentine atmete tief ein und schloss die Augen. Vielleicht lag die Antwort nicht in den „Was-wenn“-Fragen, sondern in der Akzeptanz dessen, was war. Und was sie daraus machte.
© Christine_Bernstein 2025-04-01