von Neele Hermann
Alle betrauern die Toten, doch wer betrauert die Lebenden? Olydia empfand den Tod als Ă€uĂerst egoistisch, genauso wie ihre verstorbenen Geliebten. Er war ein schwacher Mann gewesen. Ohne Ambitionen, ohne TrĂ€ume, ohne eigenen Willen. Sie hatte ihn nur geheiratet, um ihren Vater einen Gefallen zu tun. Dieser war nĂ€mlich schon sehr alt und wĂŒnschte sich nur eine sichere Zukunft fĂŒr sie. Doch die Wahrheit war, dass Olydia ihn fĂŒr seinen Tot hasste. Ihren Vater und ihren Geliebten. Wie konnten die beiden sie in dieser Welt alleine lassen? Wie konnten sie sich einfach ergeben und nicht um ihr Leben kĂ€mpfen? Sie war fest davon ĂŒberzeugt nicht so egoistisch zu sein. Sie wĂŒrde leben und sie wĂŒrde niemanden zurĂŒcklassen.
Dieser Plan funktioniert fĂŒr eine lange Zeit. Manch einer wĂŒrde vielleicht sagen, dass Olydia dem Tod einige Male sogar von der Klippe gesprungen ist. Sie starb nicht an Krankheiten und ihr passierten auch keine unglĂŒcklichen ZufĂ€lle. Sie schien fast schon unsterblich. Vor allem, wenn sie mit ihrem weiĂen Satin Kleid ĂŒber den Friedhof schlenderte, auf Grabsteinen hĂŒpfte und Statuen kĂŒsste. Fast wie ein Geist wirkte sie. Das Mondlicht lieĂ sie förmlich leuchten. Sie wirbelte ihre langen Arme ĂŒber ihren Kopf und summte dabei unerkenntliche Lieder. Alles nur um die Toten an ihren Egoismus zu erinnern und ihnen keine Ruhe zu geben. Sie bemerkte nicht das sie einmal dabei eine sehr, sehr alte Steinplatte beschĂ€digte die an einer kleinen Ecke einbrach. Der Staub der herunterrieselte, bedeckte ein Teil der Gravur die im alten Steinsarg eingraviert war. Man konnte nur hoch ein T und ein H erkennen.
Viele MĂ€nner im Dorf schwĂ€rmten fĂŒr sie. Sie seufzten wĂ€hrend sie ĂŒber ihre langen blonden Haare redeten. Wie sie das Licht reflektieren. Oder ihre grĂŒnen Augen in denen man sich verlaufen könnte. Wie ein Labyrinth ohne ersichtliches Ende. Keiner Interessiert sich fĂŒr ihre Vergangenheit. DarĂŒber das sie bereits eine Witwe war. DarĂŒber das ihr Vater verstarb. Und darĂŒber, dass sie nie zu altern schien. Die Frauen hielten sich von ihr fern. Sahen sie als eine Bedrohung. Olydia störte dies nicht und die Aufmerksamkeit der MĂ€nner nahm sie dankend an. Jedoch heiratete sie nicht erneut und beschĂ€ftigte sich auch nicht lange mit den MĂ€nnern, oder allgemein den Menschen aus dem Dorf. Dies lag daran, dass in ihren Augen keiner der MĂ€nner genauso stark war wie sie, um den Tod zu trotzen, keiner verstand ihre Wut auf ihn. Und so verbrachte sie ihr Leben alleine…vorerst.
© Neele Hermann 2025-05-21