von Günther Stark
Zwei Lemminge trafen sich nahe einer steilwandigen Klippe. Wie alle Lemminge lebten sie auf einer kleinen Insel, die in Form einer felsigen Ebene hoch aus dem sie stürmisch umbrandenden Meer ragte. Eine große Schar Lemminge drängte sich auf der Klippe. Diejenigen am Rand der Klippe wurden von den Nachkommenden weiter gedrängelt und stürzten über die Klippe ins Meer und waren spurlos verschwunden. Immer mehr neue Lemminge drängten nach, bevor auch sie gleichwie bei einem Suizid über die Klippe ins Meer stürzten.
„Warum tun sie das?“, fragte der eine den andern.
„Tun sie nicht mit Absicht“, antwortete der. „Man hat längere Zeit angenommen, wir begingen kollektiven Suizid, weil es schick klang. Dann hat man sich die Sache nochmal näher angesehen und festgestellt, dass wir nicht anders können.“
„Nicht anders können?“
„Können wir nicht. Die vorderen von uns sehen durchaus, dass da eine Klippe ist, aber von hinten wird gedrängelt wie bei einem Popkonzert. Wir schubsen einander ins Meer. Wir sind zu viele.“
„Woher kommen denn alle?“
„Aus dem Nichts. Wir vermehren uns. Generation um Generation wird geboren, lebt ihre Zeit, sieht die letzte Generation über die Klippe stürzen und die nächste Generation nachkommen, bevor auch sie selber über die Klippe gedrängelt wird.“
„Wohin da gehen wir?“
„Ins Nichts. Es existieren immer nur diejenigen, die sich gerade auf der Klippe drängeln. Die andern sind nicht mehr oder noch nicht. Sie sind nicht. Es sind immer nur gerade diejenigen, die auf ihren Absturz warten, die momentan existierenden Lemminge. Die davor sind für immer annihiliert, die danach sind noch nicht, und davor und danach ist nichts. Das ewige Nichts.“
„Und wo sind wir?“
„Zwei Schritt vor der Klippe.“
© Günther Stark 2023-04-24