Die Lesung

Hedda Pflagner

von Hedda Pflagner

Story

Sie hatte feuerrote Haare und bei einem kurzen Blick in ihr spitzes Gesicht war sofort klar, dass die Farbe bewusst ausgewählt worden war, denn die Dame war nicht mehr die jüngste.

Sie trug ein kirschrotes tailliertes Kleid und von hinten wirkte sie jugendlich und schlank. Nur dass die Farbe ihres Kleides nicht zu der ihrer Haare passte. Ja eigentlich biss sich das richtig und tat mir in den Augen weh.

Apropos Beißen – diese Assoziation ließ mich von Beginn an nicht mehr los. Die Dame hatte eine blecherne Stimme, die ihrem Vortrag etwas Schrilles, ja Aggressives gab. Fast gleichzeitig hörte man deutlich, dass sie lispelte. Alle Zischlaute klangen irgendwie verstümmelt, so als hätte sie sich in die Zunge gebissen oder gar die Zungenspitze abgebissen! Oder vielleicht hatte sie ja nur unlängst ein neues Gebiss bekommen, sodass ihr Problem kein endgültiges war.

Meine Konzentration auf ihren Text war dahin, zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich gar nicht mehr erinnern kann, worum es eigentlich ging.

Und doch gelang es ihr nach einiger Zeit, meine Aufmerksamkeit zurückzuholen. Sie fantasierte von einem sechsten Finger, der ihr gewachsen war, in Form eines Bleistiftes, oder eines Kulis, verschmolzen mit ihrer Hand, sozusagen zu einem Schreibfinger, einem nützlichen Anhängsel, das ihr selbstlos dazu diente, ihre Gedanken und Ideen festzuhalten.

Immer mit dem englischen th oder dem Zuzellaut der Spanier, man stelle sich nur vor, wie man richtig Barcelona oder gar Ibiza ausspricht. Da scheiden sich die Geister – schon beim Wort Ibiza. In diejenigen, die wissen und die, die mit dem Z so richtig hervorpreschen, dass man fast den Eindruck bekommen könnte, dass manch tadellose Zahnreihe plötzlich vor lauter Zischen herauspurzelt, weil sie doch nicht so gut sitzt wie es den Anschein hat.

Nun – dieses Problem hat unsere Dame nicht. Sie wird Ibiza oder Barcelona immer perfekt aussprechen, sie kann gar nicht anders!

Ganz in diese Betrachtungen versunken, schrecke ich plötzlich auf. Denn aus dem Augenwinkel hat mein Blick etwas Unglaubliches entdeckt: Die Dame reckt einen schmutzig weißen, riesigen Verband am Zeigefinger der rechten Hand wie warnend in die Höhe.

Oh Gott, schießt es mir durch den Kopf, sie hat sich den Schreibfinger abgeschnitten! Und ich kann mich nicht dagegen wehren, dieses Bild wird zur fixen Idee, die sich unverrückbar und mit fotografischer Genauigkeit in mir festsetzt.

Nichts habe ich vom Text verstanden, nichts von der Lesung, ich sehe nur den fehlenden, blutenden Finger vor mir und die fehlende Zungenspitze.

Allein was tun gegen die Macht der Fantasien??

Inzwischen applaudierten die Leute artig und niemand schien sich daran gestört zu haben.

Da stand plötzlich eine Frau auf und fragte: Frau Sowieso, haben Sie sich am Ende gar an Ihrem Schreibfinger verletzt?

Allgemein befreites Gelächter.

Ich war der Fragerin unendlich dankbar und atmete erleichtert auf.

© Hedda Pflagner 2021-04-22