Die Liebe hören

Theodor Leonhard

von Theodor Leonhard

Story

“Ich weiß es nicht. Sie haben es mir nie gesagt.” Sehr unsicher und unruhig wirkende Menschen wurden gefragt, ob ihre Eltern sie geliebt haben, als sie noch Kinder waren. Bis auf wenige Ausnahmen gaben sie im Wortlaut fast dieselbe Antwort: “Ich weiß es nicht. Sie haben es mir nie gesagt.”

Vielleicht war Kurt einer von ihnen. Seine Eltern hatten seit seiner Geburt ihre festen Pläne mit ihm. Er sollte einmal in ihre Fußstapfen treten. Als er ein Jahr alt war, eröffneten sie eine Anwaltskanzlei. Innerhalb weniger Jahre konnten sie die Anzahl ihrer Mandanten vervierfachen, zogen in ein repräsentatives Gebäude mitten in der Stadt und verdoppelten ihr Personal. Derweil wurde Kurt von einem privaten Kindermädchen gefördert, konnte bereits mit 9 Monaten gehen und ging mit eineinhalb Jahren selbstständig auf die Toilette. Schon bevor er drei Jahre alt war, besuchte er einen zweisprachigen Kindergarten. Die Eltern ließen es an nichts fehlen, was die Kompetenzen von Kurt erweitern konnte. Schulbesuch in einer renommierten Privatschule. Jurastudium auf einer angesehenen Eliteuniversität. Abschluss seiner Doktorarbeit mit “summa cum laude”. Von Kindesbeinen an bekam Kurt nach jedem Fortschritt, nach jeder bestandenen Prüfung, nach jedem Erfolg zu hören, wie stolz seine Eltern auf ihn waren. Ganz besonders betonten sie ihren Stolz, wenn sie mit Kollegen oder Konkurrenten zu tun hatten. Nur über ihrer Liebe, darüber erfuhr Kurt nichts.

Er wurde ein ebenso erfolgreicher wie rücksichtsloser Anwalt. Tief in seinem Herzen bohrte je länger, umso unerbittlicher die Frage, ob er es wert sei geliebt zu werden. Noch nie hatte jemand zu ihm gesagt: “Ich liebe dich!”

Möglicherweise war auch Jasmin eine von ihnen. Sie war ein Wunschkind. Ihre Eltern waren glücklich, als sie von der Schwangerschaft erfuhren. Sie würden ihr Kind von Herzen lieben. Bereits während der Schwangerschaft vermied ihre Mutter jede Aufregung und jede unnötige Aktivität. Das Kind sollte die ganze Aufmerksamkeit der Eltern genießen dürfen. Schon als kleines Kind wurde Jasmin jeder Wunsch erfüllt und das nicht nur an der Supermarktkasse, wenn sie nur laut genug schrie. Ihre Eltern waren immer um sie und ließen sie keinen auch noch so kurzen Moment aus den Augen. Für sich selbst hatten sie kaum noch ein eigenes Leben. Dass sich genau deshalb immer mehr eine untergründige Aggression in ihnen aufstaute, die die Herzlichkeit ihrer Liebe von innen auffraß, das merkten sie lange Zeit nicht. Nach wie vor verwöhnten sie ihr Kind. Aber dass sie Jasmin liebten, diese Worte wollten und konnten einfach nicht aus ihrem Herzen und über ihre Lippen kommen. Sie konnten ihr Mädchen kaum liebevoll in den Arm nehmen. Einfacher war es, sie nach wie vor zu verwöhnen und alles für sie zu tun und zu opfern.

Irgendwann konnte Jasmin das nicht mehr ertragen und zog im Streit mit den Eltern aus. Und ihre unerfüllte Sehnsucht zog mit ihr, einfach geliebt zu werden, zu hören: “Ich hab dich lieb!”

© Theodor Leonhard 2021-10-17

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