Die Linde

Ilja

von Ilja

Story

Kurz vor Sonnenuntergang führen die Trommler die Festgesellschaft jene 20 Meter vom Hof zu Dem Baum, zu meines Bruders Grab in spe. Sie stimmen ein brasilianisches Totenlied an, Gesang, begleitet vom stampfenden Rhythmus der Trommeln. Die Anwesenden bilden einen großen Kreis um die alte Linde. Ich trete in die Mitte und verkünde: „Wir werden nun den Laurin auf seiner Reise in den Baum begleiten. Jeder, der möchte, kann eine Handvoll Erde dazu beitragen und Ihm etwas mitgeben.“

Warum gerade ich vortrete und spreche, fragt man sich vielleicht. Die Antwort ist: Weil ich es will, niemand anderem könnte ich diese Aufgabe überlassen, sie ist mein Dienst an Ihn. Ich bin sein Zeremonienmeister.

An den Rand des Menschenkreises zurücktretend, fange ich zu summen an, ein tiefer Ton, so tief wie mir nur möglich. Die Umstehenden nehmen diesen auf, bilden eine Terz oder eine Quint darauf, bis ein vielstimmiges Vibrieren diejenigen begleitet, die zu Ihm an den Baum treten, eine handvoll Erde nehmen und diese, begleitet von einem Gruß, einer Verbeugung oder einem Kreuzzeichen in die Höhlung im Stamm fallen lassen, in der seine Asche ruht.

Ich blicke mich um. Bunte Bänder hängen von den tiefer hängenden Ästen, man hatte Ihm Grüße und Wünsche daraufgeschrieben, dazwischen schwingen tibetische Gebetsfahnen sanft im Abendwind.

Noch immer kommen späte Gäste an, schreiten die letzten Meter der leicht ansteigenden Straße herauf und gesellen sich zu uns. Mittlerweile sind wir schon an die hundert Leute. Die meisten sind mir wohlbekannt, Verwandte und Freunde, jahrzehntelange Begleiter, doch eine andere Gruppe erregt meine Aufmerksamkeit besonders.

Ungefähr dreißig Leute sind sie, junge Menschen, schön anzusehen in ihrer Vielfältigkeit. Laurins Freunde. Ein paar trugen Dreadlocks, einer hatte einen leuchtend roten Irokesen, ein schön bunter Haufen, ganz nach meinem Geschmack. Ich bin schon gespannt auf die Geschichten sie mir von Ihm erzählen werden. Geschichten von einem Leben, das gelebt worden war, in vollen Zügen, wenn es auch kurz gewesen ein mag.

Der beißende Geruch des indischen Totenfeuers, herstellt aus Ghee und Kuhfladen in einer Kupferschale, steigt mir in die Nase, als die letzten Sonnenstrahlen auf die Versammelten fallen.

Ich raffe mich auf, trete langsam wieder in die Mitte des Kreises, an den Stamm des Baumes, versuche die richtigen Worte zu finden, Worte um mit der Trauerstimmung zu brechen, denn ich weiß, er hätte gewollt dass wir glücklich sind, dass wir feiern, wenn schon nicht mit Ihm, dann für Ihn. Die Worte kamen.

„Wir alle trauern um Laurins Tod, doch heute – heute feiern wir sein Leben!“ brachte ich heraus, mit belegter Stimme, gegen Ende hin lauter werdend. Ich konnte mich nicht sehen in diesem Augenblick, doch glaube ich, dass sich meine Lippen am Schluss zu einem wilden Grinsen verzogen, und als die Runde in Jubel ausbricht, jubel ich mit.

Schließlich soll das ja keine Trauerfeier werden, sondern sein Fest.

© Ilja 2019-11-21