Als die Jungs zum ersten Mal eine Liste der beliebtesten Mädchen der Klasse machen, hasse ich gerade Mathe, Latein, mein Cello und den Samstagsunterricht. Die Liste ist mir egal, weil ich, wie mir gesagt wird, nicht zu den Mädchen gehöre. „Du zählst zu den Jungs!“ Ich trage die gleichen Klamotten wie meine Freunde und bin in keiner Mädchenclique, weil ich mit denen nichts anfangen kann. Eigentlich ist es umgekehrt. Vielleicht eine Wechselwirkung, bei der unklar ist, wer damit anfängt, nichts mit dem anderen anfangen zu können.
Mein Vater wollte unbedingt, dass ich das Musische Gymnasium besuche, obwohl meine Lehrerin ihn gewarnt hat, dass ich zu dumm sein könnte. „Darf ich dann wenigstens Schlagzeug spielen?“ Ich will lieber auf Bäume klettern, am Bach spielen, hab keine Lust auf ein Instrument, das größer ist als ich, wenn man nicht draufschlagen kann, muss aber Cello lernen, wie meine Schwester. Deshalb fehle ich die Hälfte der Zeit. Das verzeiht so eine Schule nicht: Als die Lehrer ihre eigene Bewertungsliste herausgeben, falle ich durch. Im nächsten Jahr bin ich wieder in der fünften Klasse, auf der Realschule, und diesmal stehe ich auch auf der Liste. Ich bin auf einem der letzten Plätze, hinter dem dicken Mädchen mit den gelben Zähnen, das sich prügelt. Nach mir kommt nur noch das Mädchen, bei dem alle rufen, dass sie springen soll, wenn sie am offenen Fenster steht. Ich bin nicht beliebt. Beliebtheit steht für mich nicht zur Debatte, vor allem nicht als Mädchen. Als Junge komme ich gut klar, bis mir Brüste wachsen.
„Wenn man dir richtig ins Gesicht sieht, bist du hübsch“, meint Gianna, die einen der ersten Plätze belegt. „Hübscher als Jenny.“ Jenny ist eine Außenseiterin zwei Plätze vor mir. „Wenn man sie genau ansieht, ist sie auch hübsch.“ Ich sage das Gleiche, was Gianna über mich behauptet hat, überzeugend scheinbar, denn plötzlich stimmt sie mir zu, nimmt ihr Kompliment an mich zurück und was immer kurz in mir erblüht war, fällt in sich zusammen.
Eines Tages fragt mich ein Junge, der aussieht wie Leonardo DiCaprio in Titanic: „Weißt du eigentlich, dass du echt scheiße aussiehst?“ Er bestraft mich, weil er mich nicht, wie andere hässliche Mädchen, ignorieren kann. Ich bin zu laut, um unsichtbar zu sein. Und ja, auch hässlich. Ich sehe aus wie diese Hunde, die vor lauter Zotteln keine Augen haben. Ab und zu schneidet meine Tante mir den Pony zu einem geraden Strich über den Augenbrauen. Danach renne ich heulend ins Zimmer. Sie ist einer der Gründe, warum ich nichts von Familientraditionen halte. „Man soll deine strahlend blauen Augen sehen“, findet meine Mutter. Ich finde, dass niemand sich für meine Augen interessiert, solange ich diese Scheißfrisur habe. Ich verstehe nicht, was es heißt, ein Mädchen zu sein. Wenn ich könnte, wäre ich wieder auf meiner alten Schule und heimlich verliebt in zwei meiner Klassenkameraden, für die ich ein Junge bin. Das ist aufwühlend, aber einfacher. Aber es ist zu spät. Ich hab jetzt Brüste.
© Jane Steinbrecher 2022-05-24