Die Lügen nehmen ihren Lauf

Daniela Simlinger

von Daniela Simlinger

Story

24. Dezember

Meine Mama holte den Keksteller, den wir zuvor am Nachmittag gemacht hatten, hervor und fragte: „Wer möchte Kekse?“ Alle stürzten sich darauf. Ach wie gern ich doch nur eins genommen hätte, aber stattdessen hatte ich nur Zahlen im Kopf. 69. 98. 75.

Ich fühlte mich eingeengt. Es war kein schönes Gefühl. Ich trat einen Schritt zurück und setzte mich auf das Sofa. Als ich merkte, dass mein Bauch im Sitzen trotz der Leggins sichtbar war, schnellte ich wieder hoch. Ich ging um die Sitzbank herum und versuchte mich an dessen Rückenlehne anzulehnen, aber auch hierbei konnte ich meinen Bauch spüren. Also richtete ich mich wieder auf, griff mir unter das Kleid und zog so fest wie ich konnte an der Leggins. Der Bund berührte schon fast meine Brust, so hoch zog ich diesen. Obwohl das unwohle Gefühl, das mittlerweile meinen gesamten Körper eingenommen hatte, nicht verschwand, merkte ich eine kleine Besserung.

„Magst du keine Kekse?“, fragte Vanessa verwundert. Ich verdrehte innerlich die Augen. Es war klar, dass so eine Bemerkung wieder von ihrer Seite kommen musste. Sie hatte ja kein Problem damit, zu essen. Ihr sah man nicht jedes Keks, das sie verzehrte, sofort an. Ich wurde wütend. Auf sie. Auf mich. „Nein“, sagte ich. An ihrem überraschten, fast schon erschrockenen Blick erkannte ich, dass ich wohl etwas zu böse geantwortet hatte. „‘Tschuldigung“, murmelte ich, „Ich will einfach nur keine Kekse vor… ähm… den Broten essen.“ Hervorragende Ausrede, lobte ich mich selbst und dachte mir gleichzeitig: Zweite Lüge.

„Können wir die Brote jetzt essen?“, fragte ich. „Warten wir lieber noch ein bisschen“, meinte mein Papa laut und meine Mama stimmte ihm zu. Nein, nicht warten. Alles, nur nicht warten. Je früher wir essen würden, desto früher war es vorbei. Je länger wir zuwarten würden, desto hungriger würde ich werden und desto mehr müsste ich an Essen denken. Aber ich wollte nicht daran denken. Ich wollte nicht hungrig sein und ich wollte auch nicht warten. Ich wollte es hinter mir haben, es abhaken und nicht mehr daran denken müssen. „Hm, können wir nicht doch jetzt schon essen?“, hakte ich nach. „Nein, also ich brauch die Brote jetzt noch nicht unbedingt“, antwortete Vanessa. Ich wurde erneut wütend auf sie. Warum war ich dauernd wütend auf sie? Sie konnte doch gar nichts dafür.

© Daniela Simlinger 2021-08-14

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