von –Bina–
Sie zögerte kurz, als sie den Schlüssel umdrehte. Sie war lange nicht mehr hier gewesen. Sie konnte sich nicht mehr erinnern vor wie vielen Jahren sie das letzte Mal hier war. War sich nicht sicher, ob das überhaupt ihr Leben gewesen war. Der Schlüssel knarzte unangenehm, als sie versuchte die Haustür aufzusperren. Das Schloss hatte sich verzogen. Kurz hielt sie inne, bevor sie vorsichtig die Tür öffnete. Fast so als wüsste sie nicht, was sie erwartete. Obwohl sie die Bilder von früher noch vor Augen hatte. Etwas verschwommen vielleicht, aber sie hatte das Gefühl, je länger sie ihre Erinnerungen zuließ, desto klarer wurden sie. Es begrüßte sie ein vertrauter Geruch. Und mit einmal mal schien die Zeit sie einzuholen. Und in jenem Moment war Sophia Brandao machtlos. Machtlos über ihre eigenen Gedanken. Es waren zu viele. Zu viele auf einmal, die von irgendwo herkamen. Sophia wusste nicht, woher. Woher diese Gedanken überhaupt den Weg gefunden hatten. Den Weg zurück ins Jetzt und sie überfluteten. Sie konnte noch nicht einschätzen, ob auf eine gute oder unheimliche Art und Weise. In diesem Moment, als Sophia Brandao die Tür zu ihrem alten Leben geöffnet hatte, wusste sie wenig. Fast nichts. Nur die Gänsehaut auf ihren Armen, die sie zufällig bemerkte, als sie ihre cremefarbene Designerhandtasche auf die verstaubte Kommode abstellte, zeigte ihr, dass sie berührt zu sein schien. Eine Berührtheit, die sie selten so gespürt hatte. Eine Berührtheit, die viel Tiefe in sich trug. In der verschnörkelten Glasschale, die auf der Kommode stand, befanden sich ein paar Münzen und bereits geöffnete Kaugummischachteln. Sogar noch eine halb volle Packung Zigaretten und ein lilafarbenes Feuerzeug. Als hätte jemand gestern das letzte Mal das Haus verlassen. Oder betreten. Wahrscheinlich eher betreten. Sophia verlor sich in Gedanken dazu, die nicht von Bedeutung waren. Wie so vieles, dachte Sophia. Emilia Brandao. Gustavo Brandao. Sie strich sanft über den verstaubten Bilderrahmen, der sich neben dem Glasschälchen befand. Glücklich lächelten ihre Großeltern in die Kamera. Das Foto war schwarzweiß und ausgeblichen. Es schien aus einer anderen Zeit zu kommen. Aus einer Welt, die weit weg von Sophia Brandaos Welt schien. Sehr weit weg. Doch sie fühlte sich hingezogen. Wollte jede einzelne Erinnerung aufsaugen. Und nie mehr vergessen. Langsam strich sie über das Glas, hinter dem das Foto versteckt war. Entfernte sorgfältig die dicke Staubschicht, die darüber lag. Und mit jeder Handbewegung, jedem Staubkörnchen, das in die Luft gestoßen wurde, schien Sophia näher durchzudringen in das Leben ihrer Großeltern. Sah die beiden lebendig vor sich. Hörte leise ihr Lachen, das auf dem Foto festgehalten wurde. Vergänglichkeit. Endlichkeit. Melancholie. Wehmut. Ob sie dieses Lachen jemals vergessen würde, fragte sich Sophia Brandao, als sie ein letztes Mal sanft über das Glas des Fotorahmens strich.
© –Bina– 2022-08-02