von walter reichel
An der Bushaltestelle tritt ein Herr auf mich zu, stellt sich als Fremdenführer vor und fragt, ob ich den Wunsch hätte, die Menagerie zu besichtigen. Die Menagerie? Ich bin es müde, von fremden Leuten angesprochen zu werden, aber dieser sogenannte Fremdenführer, er hat, wer immer er sei, einen so freundlichen Blick, dass ich zögere – und so errät er daraus meine Zustimmung und schreitet voran, ohne sich nach mir umzudrehen.
Ich haste hinterher und bald sehe ich das Ziel: Eine gewaltige Mauer, ein verschlossenes Holztor, daneben eine winzige Lehmhütte, darin hockt mit einfältigem Gesicht ein zerlumpter Kassier, der zunächst ein paar Münzen einfordert, dann sich erhebt und uns öffnet.
Auf der weiten, ebenen Fläche innerhalb der Mauer befinden sich in der Tat zahlreiche große, runde Käfige, aber keine Tiere sehe ich darin, sondern, ich staune, nackte Menschen, manchmal einzeln, manchmal in Gruppen, Männer, Frauen, Kinder, Erwachsene , Alte, sie werfen nur einen flüchtigen Blick auf uns, manche lausen sich, manche paaren sich.
Der Kassier, und offenbar ist er zugleich auch Wärter hier, klatscht in die Hände und sogleich werden die Menschen aufmerksam und nähern sich den Gitterstäben mit erwartungsvollen Mienen, dann geht er zu einem Trog, gefüllt mit Speiseresten, schaufelt das Futter in Blechkübel, schleppt die vollen Eimer schief und krummbeinig zu den Käfigen und schüttet den Inhalt zwischen den Stäben hindurch zu den Wartenden hinein. Die Menschen setzen sich zum Fressen hin, manche streiten um einen Leckerbissen, aber bald ist zufriedenes Schmatzen und Schmausen zu vernehmen.
Ich wende mich an den Fremdenführer: “Das sind ja Menschen!”
“Ja, Menschen”, pflichtet er mir bei, “Menschen, warum auch nicht? Sind freiwillig hier, müssen sich um nichts kümmern, leben von den Eintrittsgeldern. Ihr Lebenszweck besteht darin, besichtigt zu werden. Ist das verwerflich?”
“Ja”, sage ich, “das ist verwerflich.”
Der Fremdenführer lächelt überlegen: “Wissen Sie, alles, was Sie hier sehen, ist nur Oberfläche. Sie verwechseln Sein und Schein.”
Als er merkt, dass meine Missbilligung wächst, wird er sehr ernst und fordert mich auf, unter dem Torbogen zu warten. Dann tritt er an meine Seite, bückt sich und bewegt die Arme, als wolle er einen Teppich heben und heranziehen. Da merke ich, dass er eine durchsichtige Haut in den Händen hält – die Oberfläche der Welt, denn überall, wo diese Folie sich ablöst, verschwindet die Wirklichkeit, bis zuletzt im Geviert der hohen Mauer nichts anderes überbleibt als ein bodenloser Abgrund vom Himmel bis zur Hölle.
Und nun zerknüllt er die Haut, formt daraus eine Kugel, so groß wie ein Schneeball, dann, mit aller Kraft, wirft er sie hoch in die Luft, sie steigt und fällt in einer wundersamen Parabel, bis sie in der Mitte des leeren Raumes verglüht.
“Und jetzt“ – er wendet sich zu mir, in seinen Schläfen lodert eine unbesiegbare , zornige Freude – “und jetzt entsteht hier ein neuer Stern.”
© walter reichel 2021-11-14