von Sonja M. Winkler
Sie sagte immer „Schmidt“ zu mir. Wenn sie mich aufrief, mich ermahnte, hieß es „Schmidt“. Messerscharf wie „Schnitt“.
Ihr Name ist mir entfallen. Ich meine denjenigen, den sie hatte, bevor sie verkündete, sie werde bald anders heißen. Sie mochte damals um die vierzig gewesen sein. Ich war 14, und mir kam sie alt vor für eine Braut. Der Umstand, dass sie heiraten werde, mitten im Schuljahr, und dann Legat heißen werde, das hat mich peinlich berührt.
Legat, Akzent auf der ersten Silbe, nicht wie der päpstliche Nuntius oder das Vermächtnis, die auf der letzten Silbe betont werden. Dass ich den Namen, den sie vorher hatte, aus meinem Gedächtnis gelöscht hab, ist wohl die Rache dafür, dass sie sich meinen nie gemerkt hat.
Die Legat war eine große Frau. Ich sehe sie heute noch, wie sie den Musiksaal betritt und mit langen Schritten durch den Raum stelzt, wie jemand, dem es peinlich ist, wenn er beobachtet wird. Ihr Gang hatte etwas Steifes an sich.
Sie trug meist eine enganliegende Schoß in nichtssagenden Farben, grau oder braun, die ihre ausladenden Hüften betonte. Dazu Bluse oder Twinset. Das brünette Haar war hochgesteckt, am Hinterkopf auftoupiert und mit Nadeln festgeklammert, eine sogenannte Beehive-Frisur, wie sie damals Mode war und später durch Amy Winehouse wiederbelebt wurde.
Gegen den Unterricht von der Legat gab es nichts einzuwenden. Sie setzte sich ans Klavier und sang. Ihre Singstimme war auffallend schön. Die erste Oper, die sie uns vorstellte, die wir Akt für Akt durchkauten, war der „Freischütz“. Wir lasen sogar Teile des Librettos. Alles, was im Lehrplan stand, nahm sie durch. Und noch mehr. Sie präsentierte uns Hörproben aus allen Stilepochen. Ich erinnere mich an Händels „Wassermusik“, Smetanas „Moldau“ und Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“. Ich verdanke der Legat viel, vor allem, genau hinzuhören und Musik zu fühlen.
Sie aber hörte nie hin, wenn ich sie berichtigte. Sie blieb hartnäckig bei „Schmidt“. Doch als in der 6. Klasse die Entscheidung anstand, fiel sie mir nicht schwer. Ich wählte Bildnerische Erziehung und war die Legat endlich los.
Seit der 1. Klasse hatten wir den Stumbauer in Zeichnen. Er war progressiv für die damalige Zeit und unangepasst. Er pfiff auf jeden Dresscode und die herkömmlichen Unterrichtsmethoden. Doch die seinen waren manchem suspekt. Er war ein Künstler. Er trat für Lehrausgänge ein. In der Hallstatt-Ausstellung saßen wir stundenlang vor Glasvitrinen und zeichneten Gefäße ab. Um uns Matisse näherzubringen, brachte er Stoffe in Mustermix in die Stunde mit und drapierte sie kunstvoll auf einer von uns. Er ließ uns frei zeichnen, während sich die neue LP von Arik Brauer auf dem Plattenteller drehte.
Als mir meine Freundin H., die selbst BE-Professorin war, kürzlich eröffnete, dass ihr der Name Stumbauer was sagt, denn während ihres Studiums sei sie über etliche seiner Publikationen zur Kunstdidaktik gestoßen, da fiel ich aus allen Wolken.
© Sonja M. Winkler 2022-08-14