Die Narben meiner Menschlichkeit

Ryhane Nuri

von Ryhane Nuri

Story

Stellt mich nicht zur Frage, wie ich zu dieser Person geworden bin. Kritisiert mich nicht allzu sehr, denn die Person, die ihr gerade seht, bin nicht nur ich. Ich bin das Ergebnis von vielem. Meine Gefühle, meine Denkweise, mein Charakter – all das wurde von der äußeren Welt geformt. Die Ereignisse und Menschen um mich herum haben mich zu dem gemacht, was ihr jetzt seht.

Ich bin ein Mensch, bestehend aus all den Gefühlen, die ich gezwungen bin, im Laufe des Tages zu spüren. Gefühle, die mir aufgedrängt werden – manche bitter, manche süß. Gefühle, die mich manchmal zerstören und dann wieder neu aufbauen. Gefühle, die ich nicht selber wählen kann. Weder ihr Eintritt noch ihr Austritt lagen je in meiner Hand.

Ich bin ein Mensch, voller erfüllter und unerfüllter Wünsche, erloschener Begeisterung und unzähliger „Hätte ich dochs“. Voller Reue. Worte, die mir gesagt oder nicht gesagt wurden, haben mich geformt. Dinge, die mir angetan oder nicht angetan wurden. Ich kann nicht kontrollieren, wie andere sich mir gegenüber verhalten oder was sie zu mir sagen – nicht einmal die Worte, die ich selbst spreche.

Viele Abstürze sind mir passiert, oft verursacht durch Hoffnung aufs Fliegen. Viele Male bin ich wieder aufgestanden, nachdem ich gefallen war, was mich unendlich viel Kraft gekostet hat. Viele Fehlgedanken habe ich festgehalten, weil ich sie wahrhaben wollte. Ich habe unzählige Enttäuschungen erlebt. Viele Tränen sind auf meinen Wangen getrocknet. Viele Lacher sind mir entwichen.

Meine glücklichen Tage sind schnell vergänglich, fast wie schöne Träume, denen wir nachjagen – so flüchtig, dass sie vor unseren Augen verschwinden, kaum dass wir sie erfasst haben. Meine Traurigkeiten hingegen fühlen sich tief und schwer an, fast wie ein schwarzes Loch. Täuscht euch nicht von meinem ruhigen Erscheinungsbild. Ich klammere mich daran, nicht auseinanderzubrechen.

Ich versuche, die Löcher zu schließen, die all meine Sorgen und Traurigkeiten in mir hinterlassen. Ich bin ein Mensch im Kampf ums Überleben, gefangen zwischen all den Schwierigkeiten und Problemen, die mir auferlegt wurden. Im Kampf, in all diesem Dunkel dennoch etwas Schönes zu finden, das mich zum Lächeln bringt. Etwas, das mich an meine Menschlichkeit erinnert.

Also urteilt nicht über mich. Ich bin nichts weiter als eine Überlebende meiner auferlegten Herausforderungen, die ich kaum noch zu ertragen vermag. Schaut mich nur einmal an und nehmt mich so an, wie ich bin – ein Mensch. Schaut genau hin, in meine Augen, hört mein Herz und erkennt die Spuren meiner Narben.

Ja, ich hatte meine schönen, fröhlichen Tage, aber auch diese wurden durch schlechte und dunkle Tage verdorben. Genauso wie bei dir. Genauso wie bei jedem anderen. Warum also versuchen wir, uns gegenseitig zu verletzen, wenn wir alle im selben Boot sitzen? Wir alle sind Menschen – aus demselben Blut, aus denselben Knochen.


© Ryhane Nuri 2024-10-20

Genres
Lebenshilfe
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Reflektierend, Traurig
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