Die Opfer von Santorin

Story

Vor der Haustür stehen vier Bettgestelle, eher Pritschen, zu zweien aufeinander gestapelt. Der Plan war gewesen, die Betten mitzunehmen auf die Flucht vor der Katastrophe. Man hatte sie zurücklassen müssen. Es war wichtiger, das nackte Leben zu retten. Für mehr fehlte die Zeit. Man hatte sie auch nicht ins Haus zurückgetragen, denn mit Rückkehr rechnete man nicht. Die Betten würde man nicht mehr brauchen.

Die Menschen, denen diese Betten einmal gehört haben, sind seit paar tausend Jahren tot. Vermutlich war es so, dass ihnen die Flucht zunächst geglückt schien, die Katastrophe sie aber doch eingeholt hat. Draußen auf dem Meer, durch den Lavahagel oder den Tsunami. Vielleicht haben sie im Zurückschauen noch gesehen, wie ihre Heimat in einer riesigen Explosion versank.

Das Bild der abgestellten Betten geht einem nicht aus dem Kopf. Man sieht vor sich, wie die Leute aus den Häusern laufen, die Erde bebt, der Vulkan bricht aus. Vielleicht schaffen sie es noch bis zum Hafen auf die Schiffe und noch ein Stück aufs Meer hinaus.

Anders als in Pompeji hat man in Akrotiri keine Leichen gefunden bzw. jene schaurigen Hohlräume, die ihre zu Asche gewordenen Körper in der Lava hinterlassen haben. Genetische Forschungen haben ergeben, dass die meisten von ihnen aber niemals irgendwo angekommen sind. Die Ägäis ist ein großes Grab.

Ob Atlantis überhaupt existiert hat, wird in hunderten Büchern ergebnislos diskutiert. Das ist letztlich auch egal, denn es lässt Raum für die Phantasie. Und Raum für die Angst, auch unsere Welt könnte untergehen “in einem Tag und in einer furchtbaren Nacht”, wie Platon schrieb.

Santorin gilt seit langem als besonders “heißer” Kandidat dafür, Platon als Vorbild gedient zu haben. Doch ganz gleich, wie man das sieht, hinterlassen diese unwirklich schöne Insel und die Ausgrabungen von Akrotiri tiefste Eindrücke. Wunderbare Fresken zeigen Bilder einer heilen Welt im Luxus, große Vorratsräume sind Spur des Überflusses, die vielfachen Reparaturen an den Häusern bleiben sichtbare Zeichen einer langen Geschichte von Erschütterungen. Eine massive Steintreppe mit gebrochenenen Stufen. Und immer wieder diese zurück gelassenen Betten.

Im Museum von Akrotiri gibt es die in Gips gegossene Abformung des Hohlraumes, den ein kleiner dreibeiniger Tisch hinterlassen hat. Ein Tisch wie aus dem 18. Jahrhundert – nach Christus. Nicht vor Christus, der Zeit, aus der er wirklich stammt. Reinstes Rokoko – unglaublich.

Ich habe irgendwo in den Ausgrabungen von Akrotiri eines mehr geliebten, in vielen Stunden mühevoller Handarbeit selbst mit winzigen Glasperlen genähten Armbänder verloren. Es ist mir nicht Leid darum, denn welcher Ort könnte besser sein als dieser, um den Göttern ein Opfer zu bringen? Ich stelle mir vor, wie das Armband in der Zeit hinabgleitet bis in jene Tage, als dort die Welt unterging, und wie die Perlchen liegen bleiben im Schutt der Jahrtausende. Kleine Perlen in blau und grün, den Farben des Meeres.

© 2022-02-05