Die Raupe und der Apfel

Natascha Scholl

von Natascha Scholl

Story

Eines Tages trug sich auf einer unscheinbaren Wiese hinterm Haus einer unscheinbaren Familie etwas zu, das in sich so unwahrscheinlich war, dass es nur sehr selten passierte. Hinter dem Haus stand ein Apfelbaum, an dem jedes Jahr die prallsten Äpfel heranreiften. Es genügte ein Windhauch, um sie vom Stiel zu lösen und ins weiche Gras darunter purzeln zu lassen. Mit Ungeduld wurden die Früchte von der Familie und den umliegenden Nachbarn empfangen und mit Genuss verspeist. Die Großen stahlen sie aus der Krone und die Kleinen klaubten sie vom Boden auf.

Die Wiese darum barg nicht weniger Leben, und so geschah es, dass sich an jenem verheißungsvollen Tag eine Raupe auf den Weg machte. Weshalb, wusste sie nicht, aber sie vertraute darauf, dass es schon seinen Grund hatte, wenn sich ihr Körper in Bewegung setzte. Meist trieben sie Hunger und die Suche nach Futter voran, daher schenkte die Raupe dem Grund für ihre Bewegungslust keine Aufmerksamkeit. Auch mochte sie nicht länger auf dem Boden kriechen und erreichte dankenderweise kurze Zeit später einen Grashalm. „Also hinauf“, dachte die Raupe. Mit dem Vorderteil tastete sie sich langsam vor, streckte sich und erreichte alsbald ein gutes Stück vom Halm, an dem sie sich festhielt und ihr Hinterteil nachzog. Diesen Vorgang wiederholte sie mehrmals: Vorstrecken, nachziehen, vorstrecken, nachziehen. So arbeitete sie sich Stück für Stück den Halm hinauf, bis sie sein Ende erreichte – was die Raupe zu spät bemerkte.

Sie streckte sich erneut vor und griff ins Leere. So schwebte ihr Oberkörper im Freien, während ihr Unterleib sich am Halm festklammerte. Von dieser Wendung und dem Ende des Halms überrascht, hielt die Raupe inne und sah sich um. Gab es ein Blatt, nach dem sie greifen konnte? Einen Halm oder Ast? Stattdessen sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben den Apfelbaum, und der Anblick des Holzriesen überwältigte sie. Die grüne Krone, verziert mit roten Juwelen im Glanz der goldenen Stunde, war das Schönste, was sie je gesehen hatte. Der Wind sauste durch die Blätter und das Geräusch, das er dabei erzeugte, klang wie Applaus und das Klatschen hunderter Blätter.

Nun geschahen zwei Dinge. Erstens war die Raupe von all dem so überwältigt, dass sie augenblicklich in Schockstarre verfiel und ohne es zu bemerken, sich ihr Unterteil so stark verkrampfte, dass sie es nicht hätte lösen können, selbst wenn sie es wollte. Zweitens löste der Wind einen Apfel vom Stiel und dieser fiel geradewegs aus der Krone hinab auf die Raupe. Sie war jedoch so überwältigt, dass sie weder den Krampf spürte, noch den herannahenden Apfel bemerkte. Er zerquetschte und begrub sie vollständig unter sich. So geschah es, dass in einem seltenen Moment eine unschuldige Raupe Opfer der Physik und ein unscheinbarer Apfel ihr Henker wurde.

© Natascha Scholl 2021-12-21

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